Keynote von Jürgen Wiebicke: „Ab jetzt nur noch Krise? Wie wir uns in schwierigen Zeiten neu ausrichten können“

Bei der Konferenz „Mission possible: Neue Wege politischer Erwachsenenbildung“ (5. Juni 2023, Essen) hielt Jürgen Wiebicke die Keynote. Angesicht der von ihm diagnostizierten „emotionalen Gleichgewichtsstörung“ der Gesellschaft verwies er unter anderem auf die herausfordernden Aufgaben, aber auch die positiven, förderlichen Möglichkeiten politischer Bildung.


Foto zeigt Jürgen Wiebicke bei seiner Keynote

Jürgen Wiebicke

Bei der Konferenz „Mission possible: Neue Wege politischer Erwachsenenbildung“ (5. Juni 2023, Essen) hielt Jürgen Wiebicke die Keynote. Angesicht der von ihm diagnostizierten „emotionalen Gleichgewichtsstörung“ der Gesellschaft verwies er unter anderem auf die herausfordernden Aufgaben, aber auch die positiven, förderlichen Möglichkeiten politischer Bildung.

Der renommierte Buchautor („10 Regeln für Demokratieretter“) und bekannte Radiomoderator („Das philosophische Radio” wöchentlich auf WDR 5) beschrieb zunächst die Rolle und die Verantwortung der politischen Bildung in einer Zeit des gesellschaftlichen Wandels und der Unsicherheit. Dem aktuellen geistigen Zustand der Gesellschaft attestierte er eine „emotionale Gleichgewichtsstörung“. Die Gesellschaft sei von einer latenten Depression geprägt, die sich in einem Übermaß an Krisennarrativen zeige. Die Menschen hätten kaum Hoffnung und Zuversicht, sondern würden von Fatalismus und Angst beherrscht. Sich nur noch in Krisennarrativen zu bewegen, sei jedoch ein toxischer und auf Dauer demokratiegefährdender Zustand, der Handlungsfähigkeit und Kreativität lähme.

Wiebicke fragte nach historischen Epochen, die aktuell zu Ende gehen und nach neuen Anfängen, die sich abzeichnen. Er identifizierte drei große Brüche, die das menschliche Selbstverständnis und das gesellschaftliche Miteinander veränderten. Als jüngste ende die Epoche des Neoliberalismus, zumindest als hegemoniale Ideologie, die den Markt als alleinigen Regulator ansieht. Es ende auch die Zeit der vermeintlich unbegrenzten technologischen Naturbeherrschung ohne spürbare Konsequenzen für den Menschen. Die Klimakrise zeige, dass wir nicht mehr weitermachen können wie bisher. Zuletzt gehe auch die Epoche kontinuierlicher Individualisierung, Differenzierung und Spezialisierung zu Ende. Die Idee der Akzeptanz von Diversität reiche allein jedoch nicht aus, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken; etwas Verbindendes müsse gefunden werden, das uns als Menschen ausmache.

Weiterhin forderte Wiebicke die politische Bildung auf, sich existenziellen Fragen zu stellen, die über das bloße Tagesgeschehen hinausweisen. Die Gegenwart sei intellektuell aufregend, u.a. weil das Verhältnis des Menschen zum Tier, zur Natur und zu künstlichen Intelligenzen neu verhandelt werde. Er stellte ein Menschenbild infrage, das uns als Beherrscher*innen über allem anderen sieht. Die politische Bildung habe die Aufgabe, Orientierungswissen zu bieten, das uns helfen könne, die neuen Herausforderungen anzunehmen.

Erfahrungsräume von Selbstwirksamkeit müssten geschaffen werden, in denen Menschen erleben können, dass sie Zusammenleben mitgestalten können. Wiebicke bezeichnete sie als „gute Orte“ und nannte als Beispiele kommunale Projekte. Er betonte, dass es nur drei Personen brauche, um gute Orte zu schaffen. Diese seien Keimzellen für eine positive Veränderung der Gesellschaft. Das Schaffen solcher Orte sei eine gute Balance zwischen Utopie und Apokalyptik – weder naiv noch pessimistisch, sondern realistisch und hoffnungsvoll.

Wiebicke appellierte an ein neues Verhältnis zu Angst und Unwissenheit. Sie sollten uns nicht lähmen, sondern zu kritischer Selbstreflexion anregen. Wir sollten unsere eigenen und andere Meinungen auf die Probe stellen und uns fragen, was die besten Ideen sind; uns nicht von vorgefertigten Meinungen leiten lassen, sondern selbst denken und handeln. Die Angst vor dem Neuen sollte uns nicht abschrecken, sondern ermutigen, die Chance zu ergreifen, etwas Besseres zu schaffen.

Der Vortrag löste eine lebhafte Diskussion mit dem Publikum aus. Mehrere Zuhörer*innen betonten die Notwendigkeit, auch die Bedeutung von Emotionen für die politische Bildung zu reflektieren. Sie fragten, wie politische Bildung dazu beitragen könne, die festgestellte emotionale Gleichgewichtsstörung zu überwinden und positive Emotionen, wie Hoffnung, Zuversicht und Freude, zu fördern. Eine Zuhörerin forderte, dass politische Bildung sich als Unterstützerin der Persönlichkeitsentwicklung verstehen solle, um Menschen dabei zu unterstützen, eigene Werte und Ziele zu finden und zu verfolgen.

Eine andere Zuhörerin regte an, dass die Rede Wiebickes vom Wir und vom gesellschaftlichen Zusammenhalt durch die Reflexion gesellschaftlicher Machtbeziehungen ergänzt werden müsse und durch die Erkenntnis, dass nicht alle von den gegenwärtigen Krisen gleichermaßen betroffen seien. Sie wies darauf hin, dass es unterschiedliche Interessen und Konflikte in der Gesellschaft gebe, die nicht durch gute Orte mühelos zu lösen seien. Ergänzend forderte sie, dass politische Bildung sich auch mit den strukturellen Ursachen der Krisen auseinandersetzen und für soziale Gerechtigkeit eintreten solle.

 

Veröffentlicht am 30.06.2023

 

Zum Weiterlesen

  • Kurzbericht zur Konferenz „Mission possible: Neue Wege politischer Erwachsenenbildung“ (5. Juni 2023, Essen) mehr lesen

 

 



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