„Wir brauchen neue Leitbilder in der politischen Bildung.“ Interview mit Andreas Zick (Teil 1)
Prof. Dr. Andreas Zick ist Sozialpsychologe, Professor für Sozialisation und Konfliktforschung und Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld. Im Interview mit der Transferstelle beschreibt er den Zusammenhang zwischen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Leistungsprinzip und erklärt warum wir neue Leitbilder in der politischen Bildung brauchen.
Prof. Dr. Andreas Zick ist Sozialpsychologe, Professor für Sozialisation und Konfliktforschung und Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld. Im Interview mit der Transferstelle beschreibt er den Zusammenhang zwischen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Leistungsprinzip und erklärt warum wir neue Leitbilder in der politischen Bildung brauchen.
Transferstelle politische Bildung: Der Populismus scheint auf dem Vormarsch zu sein. Leben wir in demokratiefeindlichen Zeiten?
Andreas Zick: In unsere Studien zeigt sich zunächst, dass es vor allem sehr viel Demokratiemisstrauen gibt. Die Menschen sind der Demokratie erst einmal nicht feindselig gegenüber eingestellt. Sie glauben nur nicht, dass demokratische Grundprinzipien effektiv sind. Über 70 Prozent der Bürgerinnen und Bürger waren zum Beispiel 2014 der Meinung, die demokratischen Parteien zerreden alles und lösen die Probleme nicht. Ein Problem ist, dass sie dann von Populisten und Extremisten – diese Grenze ist zum Teil sehr fließend geworden – abgeholt werden und dann in eine Feindseligkeit gegen die Repräsentanten von Demokratie und gegen die Eliten überführt werden. Insofern kann man schon sagen, dass es eine demokratiefeindselige Stimmung gibt. Darüber hinaus bemessen wir die Demokratiefeindseligkeit auch daran, wie verbreitet Vorurteile, Stereotype und rassistische Einstellungen sind, also die Gleichwertigkeit von Gruppen infrage gestellt wird. Wir reden dann von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Dabei beobachten wir in Teilen der Bevölkerung eine rückläufige Tendenz. In Bezug auf islamfeindliche Einstellungen, Antisemitismus etc. stellen wir aber fest, dass diese in der Mitte sehr weit verbreitet sind.
TpB: Auf welche Menschen oder Gruppen trifft das besonders zu?
AZ: Wir beobachten seit vielen Jahren, dass das Ausmaß an Ungleichwertigkeitsvorstellungen und die Zustimmung zu Rassismus in vielen Gruppen in der Mitte der Gesellschaft sehr stark angestiegen und dort stärker verbreitetet sind, als in anderen Segmenten in der Gesellschaft. Das lässt sich in bürgerlichen Gruppen, aber zum Teil auch bei den reichsten unserer Befragten feststellen. Zudem betrifft es sowohl die objektive Mitte, die sich nach Einkommen und nach Status bemisst, als auch diejenigen, die sich selbst subjektiv als „Mitte“ bezeichnen. Ein Drittel der Mitte ist zum Beispiel der Meinung, man sollte wohnungslose Menschen besser aus den Fußgängerzonen der Städte entfernen. Ungleichwertigkeitsvorstellungen sind in der Mitte weit verbreitet und gleichzeitig sind sich diese Menschen aber ihrer Vorurteile gar nicht bewusst, weil sie sich selbst zu den Diskriminierten zählen. Wir haben vor zehn Jahren feststellen müssen, dass sich sehr viele Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern als Menschen zweiter Klasse empfinden.
TpB: Welche Erklärungsansätze haben Sie dafür?
AZ: Es gibt dafür unterschiedliche Gründe. Ein Drittel unserer Befragten ist der Meinung, dass unsere Gesellschaft eigentlich nicht nach demokratischen, sondern nach ökonomischen Werten, Normen und Vorstellungen funktioniert. Sie glauben, dass das Prinzip „Wettbewerb und Leistung“ entscheidend ist und dass es eben stärkere und schwächere Gruppen gibt. Diese marktförmigen Orientierungen und Einstellungen werden als maßgeblich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt gesehen. Das wirkt sich aus. Für Kinder in der Schule sind Noten das Wichtigste und für Erwerbstätige sind es der Lohn und der Arbeitstakt. Diese Sichtweise nimmt immer mehr zu. Insbesondere im Alter stellen viele fest, dass nur Leistung zählt. Die Gesellschaft ist ein Verdrängungs- und Leistungswettbewerb geworden, wer sich durchsetzt, der hat es besser. Und dieses Denken führt dazu, dass wir soziale Gruppen, die man gar nicht nach ökonomischen Werten beurteilen kann, trotzdem danach beurteilen. Das heißt, die Menschen unterscheiden in die Nützlichen und die Unnützen.
Ein weiterer Mechanismus bezieht sich auf die Frage, wie Bürgerinnen und Bürger sich identifizieren und in der Gesellschaft verorten. Die Demokratie steht bei vielen Menschen als Leitvorstellung nicht an erster Stelle. Sie finden sie zwar gut, glauben aber, dass unsere Gesellschaft eine homogene Volksgemeinschaft sein sollte. Diese Menschen denken weniger ökonomisch, sondern sind davon überzeugt, dass die Homogenität eines Volkes den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt und sie bilden nationalchauvinistische Leitbilder aus. Das Problem ist, dass diese Vorstellung immer auf Abwertung von anderen, die hinzukommen, basiert und auf Abwertung von Gruppen, die von der Norm abweichen, wie zum Beispiel Menschen mit einer anderen sexuellen Orientierung.
Ein dritter Mechanismus ist der, dass Menschen immer wieder feststellen, dass Diskriminierung, also die Abwertung und der Ausschluss von anderen, ihnen Vorteile verschafft. Da geht es dann um Dominanz und um Vorrechte von Etablierten. Unsere Studien zeigen sehr deutlich, dass viele Abwertungen von gesellschaftlichen Gruppen auf einem Machtmotiv basieren, dem Wunsch zu denen zu gehören, die Einfluss haben.
Es gibt also verschiedene Ursachen, je nach sozialer Lage. In den Daten zeigen sich weniger generelle Abstiegsängste, es sind eher Ängste, nicht mitzukommen und am Wohlstand nicht teilzuhaben. Diese Ängste haben insbesondere in der Mitte der Gesellschaft sehr weit um sich gegriffen.
TpB: Wozu dienen diese Abwertungen?
AZ: Die Abwertung ist immer ein Werkzeug, um die eigene Integration und das eigene Vorwärtskommen zu befördern. Sie ist für die Befriedigung bestimmter Motive wichtig und diese können je nach sozialer Lage sehr unterschiedlich sein.
Außerdem haben im Moment viele Menschen Sorgen und Befürchtungen in Bezug auf die Globalisierung. Es geht ja nicht nur um offene Grenzen, sondern sie merken, dass die Gesellschaften sich geöffnet haben, dass sie globaler und vielfältiger werden müssen, um vorwärts zu kommen. Diesen Wandel können sie sich nicht erklären. Und wenn ich mir etwas nicht erklären kann, bietet eine Diskriminierung und ein Vorurteil gegenüber anderen Gruppen immer einfache und leichte Lösungen.
TpB: Glauben sie, dass Politik und Gesellschaft auf die aktuellen Entwicklungen adäquat reagieren?
AZ: Ich glaube, dass die Politik sich gerade beim Thema Zuwanderung zu lange auf Bedrohungsbilder und -mythen eingelassen hat. Es scheint einen politischen Konsens zu geben, dass wir in den letzten zwei Jahren eine Asylkrise und Flüchtlingswellen erlebt haben. Da gab es wenig Widerspruch, obwohl es der wissenschaftlichen Evidenz widerspricht. Diese zeigt, dass es immer wieder solche Peaks gibt. Die Gesellschaft muss darauf aber gemäßigter und ausgleichender reagieren. Da ist Politik zu sehr populistischen Bildern hinterhergelaufen. Politik hat sich zu lange in einer Populismusfalle bewegt. Das heißt Populisten und Extremisten setzen die Themen und die etablierte Politik versucht dann entweder zu erklären, warum das Thema jetzt nicht wichtig ist oder welche Gegenbilder es gibt, anstatt eigene Akzente zu setzen. Es reicht beim Thema gesellschaftlicher Zusammenhalt nicht aus, nur über Investitionen nachzudenken, sondern Politik muss Leitbilder anbieten und auch in einer schnellen und kommunikativen Gesellschaft für die Menschen vor Ort bemerkbar sein.
In den letzten 25 Jahren wurde deutlich, dass dort, wo Politik für die Menschen vor Ort nicht mehr in ihren Alltag verankerbar ist, Populisten und Extremisten es sehr leicht haben. Wir hätten aus der Zeit nach der Wende in den neuen Bundesländern etwas lernen können. Die Studien zeigen, dass Extremismus da blüht, wo Medien, Bildung und Politik die Menschen nicht abholen. Und er blüht dort, wo es Abwanderung von bildungsstarken Gruppen gibt. Also selbst die innerdeutsche Migration erzeugt Populismus und darauf kann man reagieren.
Wir leben in einem sehr bekannten und erfolgreichen Einwanderungsland und haben aber für diesen Bereich kein Ministerium und keine Ideen, wie wir Migration in den nächsten 20 Jahren steuern wollen. Das kritisieren wir und stellen die Frage, worauf es uns in der Gesellschaft ankommt. Kommt es nur auf den ökonomischen Erfolg und den Bildungserfolg im Bereich der MINT-Fächer an? Oder brauchen wir nicht auch eine Gesellschaft, die nicht ständig Menschen ausgrenzt und dadurch relativ hohe Kosten erzeugt?
TpB: Wir sind doch eine pluralistische Gesellschaft und pflegen das Selbstbild der Toleranz. Wie sie gesagt haben, scheinen aber sehr viele Menschen die Sorge zu haben, dass wir zu weltoffen sind und „angestammte“ Werte verraten. Sollte politische Bildung darauf reagieren?
AZ: Ich glaube, dass im Moment der Wert der politischen Bildung gar nicht zu unterschätzen ist. Die Frage ist aber, ob sie in dem Ausmaß stattfindet, wie wir uns das vorstellen. Politische Bildung bedeutet ja nicht nur Materialien bereitzustellen, sondern die Menschen dazu zu befähigen, selber die Demokratie verteidigen zu können. Die Mehrheit unserer Befragten findet Demokratie grundsätzlich gut. Das Problem ist: Wenn sie nicht in der Lage sind oder dazu befähigt werden, diese Demokratie selbst zu legitimieren, dann radikalisieren sie sich. Das ist in den letzten Monaten sehr deutlich geworden. Der Rechtpopulismus gewinnt dort, wo er den Menschen die Vision einer homogenen Volksgemeinschaft als den einzigen und auch angenehmeren Weg für die Zukunft unserer Gesellschaft anbietet.
TpB: Was sollte politische Bildung Ihrer Meinung anbieten?
AZ: Wir stehen immer wieder vor der Frage, warum die Gesellschaft die Chancen und Potenziale der Einwanderungsgesellschaft nicht erkennt. Das Problem ist, dass viele Menschen in ihrem Alltag das Leitbild der politischen Bildung im Sinne eines Verfassungspatriotismus und des Stolzes auf das Grundgesetz, das Einwanderung, Zuwanderung und Vielfalt miteinschließt, nicht verankern können. Die Idee der homogenen Volksgemeinschaft ist dann viel attraktiver oder für viele Menschen der einzige Weg. Es fehlt an gesellschaftlichen Leitbildern, in denen die Vielfalt zentraler Bestandteil von Demokratie ist. In dem Bereich kann politische Bildung natürlich enorme Kräfte entfalten.
2014 habe ich nach unserer letzten Studie gesagt, dass wir politische Bildung in zivilgesellschaftliche Bildung überführen müssten. Neben Wissens- und Informationsvermittlung muss auch die Entwicklung von Fähigkeiten, wie zum Beispiel Zivilcourage ausüben zu können, mit dazugehören. Das müsste zum integralen Bestandteil lebenslanger Bildung gemacht werden. Zivilcourage muss man ständig üben und an Kompetenzen und das Lebensalter sowie die Lebensumstände anpassen. Das ist ähnlich wie bei der ersten Hilfe.
Zudem glaube ich, dass wir Vorurteilsprävention noch sehr viel deutlicher als eine wesentliche Norm, als einen wesentlichen Wert von Demokratie setzen müssen. Wir denken, wenn wir aus der politischen Bildung kommen, dass das sowieso klar ist. Das ist es aber nicht. Das zeigen die 20.000 Straftaten und alle lokalen Aktionen gegen Flüchtlingsunterkünfte. Daran sieht man, dass diese Norm der Gleichwertigkeit überhaupt nicht weit verbreitet ist. Für die meisten Menschen ist das ein weicher Wert, während wirtschaftliche und ökonomische Gleichheiten harte Werte sind. Wir müssen uns fragen: Was wollen wir für eine Gesellschaft in Zukunft? Wollen wir eine gleichwertigere Gesellschaft – auch um den Preis des ökonomischen Wohlstandes?“
Interessant ist, dass die meisten Menschen denken, dass sie nicht menschenfeindlich sind. 2014/2015 hielten sich in einer unserer Umfragen 80 Prozent der Befragten für tolerant. Und eigentlich ist das ein guter Indikator, dass die Menschen nicht denken, dass sie rassistisch sind, weil sie dann wenigstens wissen, dass Rassismus etwas ist, das gegen unsere demokratischen Prinzipien verstößt. Gleichzeitig sagte eine Mehrheit von immerhin 58 Prozent, dass man hier nichts Schlechtes über Ausländer und Juden sagen dürfe, ohne als Rassist beschimpft zu werden. Das ist ein Problem, dem sich die politische Bildung stellen kann. Es hilft ja nicht, wenn Menschen, die die politische Bildung ansprechen möchte, um ihre Vorurteile zu adressieren, sich selbst für tolerant halten.
TpB: Was schlagen Sie vor?
AZ: Wir brauchen neue Leitbilder in der politischen Bildung, die eben auch solche Gruppen mitnehmen. Wenn man sich die Diskriminierungsstudien anschaut und auch die Aggressionen und Gewalttaten, dann findet man viele gesellschaftliche Gruppen, die wir überhaupt nicht mitnehmen, die wir ganz bewusst ausgrenzen. Ich glaube, wir brauchen Orte, an denen wir mit ihnen reden können und wir brauchen Themen, zu denen auch Menschen mit sehr extremen Vorstellungen noch hinkommen. Und dann müssen wir hinhören, was hinter dem Extremismus eigentlich für ein Motiv steht. Und wenn das Motiv das einer übergeordneten nationalen Identität ist, müssen wir uns fragen, ob wir ein alternatives Identitätsangebot haben. Haben wir zum Beispiel ein Leitbild wie die Habermas‘sche Idee vom Verfassungspatriotismus? Ein Leitbild, das zugleich die Gleichwertigkeit von sozialen Gruppen nicht in Frage stellt? Da kann politische Bildung etwas anbieten. Politische Bildung kann natürlich auch immer wieder darüber reflektieren, was der beste Weg ist, um überhaupt Bildung und Informationen zu vermitteln.
TpB: Was kann Wissenschaft in Bezug auf Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit für die Praxis politischer Bildung bieten?
AZ: Ich glaube der Vorteil der Wissenschaft ist, dass sie einen höheren Freiheitsgrad hat. Ich höre zum Beispiel genauer hin, was extremistische Jugendliche sagen, was sie denken und wie sie die Welt sehen. Zum anderen halten wir uns in der Wissenschaft mit vorschnellen Bewertungen zurück. Wenn also von „Sorgenbürgern“ die Rede ist, rennen wir nicht gleich auf sie zu und fragen, was er oder sie für Sorgen hat, sondern wir fragen uns, was die Person antreibt, beispielsweise ein Machtmotiv. Und dann stellen wir verschiedene Interpretationen von Wirklichkeit gegeneinander und nähern uns so der Wirklichkeit an.
In der Zusammenarbeit mit der Praxis habe ich die Erfahrung gemacht, dass es dort großes Interesse gibt, mit mir wissenschaftlich zu diskutieren, während ich mich dafür interessiere, wie in der Praxis mit diesen Personen umgegangen wird und welche praktischen Erfahrungen da gemacht werden. Insbesondere beim Thema Menschenfeindlichkeit und Radikalisierung ist der Transfer zwischen Wissenschaft und Praxis sehr wichtig und funktioniert auch gut.
Und letztlich ist Wissenschaft auch immer eine Legitimationsgrundlage für Praxis. Wissenschaft drängt eigentlich immer dazu, auch mal in Bereiche hinein zu gucken, die von Politik nicht (mehr) thematisiert werden und das ist gut für die Praxis.
Veröffentlicht am 29. Juni 2016