„Wir brauchen Themen, zu denen auch Menschen mit sehr extremen Vorstellungen noch hinkommen.“ Interview mit Andreas Zick (Teil 2)
Prof. Dr. Andreas Zick ist Sozialpsychologe, Professor für Sozialisation und Konfliktforschung und Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld. Im Interview anlässlich des aktuellen Jahresthemas der Transferstelle politische Bildung beschreibt er welche Zielgruppen politische Bildung besonders in den Blick nehmen sollte und wie Zugangsmöglichkeiten aussehen können.
Prof. Dr. Andreas Zick ist Sozialpsychologe, Professor für Sozialisation und Konfliktforschung und Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld. Im Interview anlässlich des aktuellen Jahresthemas der Transferstelle politische Bildung beschreibt er welche Zielgruppen politische Bildung besonders in den Blick nehmen sollte und wie Zugangsmöglichkeiten aussehen können.
Transferstelle politische Bildung: Welche Personengruppen sollte politische Bildung aktuell ganz besonders in den Fokus nehmen und welche Zugangsmöglichkeiten sehen Sie zu diesen Gruppen?
Andreas Zick: Zum einen fällt in unseren Untersuchungen auf, dass in den letzten Jahren unter den jüngeren Befragten zwischen 16 und 30 Jahren die menschenfeindlichen und auch rechtsextremen Einstellungen deutlich höher sind, als bei den Befragten zwischen 30 und 60 Jahren. Außerdem bestätigt sich der klassische Befund, dass die über 60-Jährigen besonders empfänglich für demokratieproblematische Einstellungen sind.
Gemeinsam ist diesen beiden Gruppen, dass sie in einem höheren Wettbewerb in der Gesellschaft stehen. Ältere Menschen, die einen Ort finden, und junge Menschen, die in die Gesellschaft hineinwachsen müssen. Letztere sind wieder eine sehr wichtige Zielgruppe geworden, denn es ist ja ein dramatischer Befund, dass die Ressentiments gegen Einwanderung unter den Jüngeren so hoch sind. Offensichtlich muss man da andere politische Ansprachen finden.
Eine weitere große Gruppe sind die Nichtwählerinnen und Nichtwähler. In unseren Studien sehen wir, dass diese nicht anders politisch denken, fühlen und handeln als Wählerinnen und Wähler. Sie ähneln aber im Bereich politischer Einstellungen in Bezug auf die gemeinsame gesellschaftliche Identität eher dem Profil der AFD als denen anderer Parteien. Und das wirft wieder die Frage auf, warum das Bild, dass die AFD als Zukunft suggeriert, so viel attraktiver ist für Nichtwählerinnen und Nichtwähler als das aller anderen Parteien.
TpB: Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
AZ: Der Populismus hat es viel einfacher. Das ist ein altes Muster, er bietet einfache Antworten und die Menschen glauben daran. Problematisch ist, dass der Populismus Menschen offensichtlich erfolgreich ihre gesellschaftliche Ohnmacht suggerieren kann. Er spricht bestimmte Machtansprüche und Zugehörigkeitsansprüche an und suggeriert selbst denjenigen, die gar keinen Einfluss nehmen wollen, dass sie keine Macht haben. Und der Populismus schafft es, Misstrauen gegenüber anderen zu schüren. Bilder von einer Islamisierung drücken das leicht sichtbar aus.
TpB: Welche Rolle kann da politische Bildung spielen?
AZ: Politische Bildung muss diese Mechanismen aufzeigen und erklären. Es reicht nicht zu sagen, dass der Populismus böse ist und man dieses oder jenes tun sollte. Politische Bildung muss die Mechanismen aufdecken, mit denen bestimmte demokratische Einstellungen erst erzeugt werden. Das kann man lernen und auch vermitteln, das ist aber nicht erfolgt.
TpB: Welche Zugangsmöglichkeiten sehen Sie zu den von Ihnen erwähnten Gruppen?
AZ: Man kann junge Menschen nach ihren Motiven, Ängsten und Sorgen fragen. Wir verlieren Jugendliche, weil ihnen radikale Milieus offensichtlich etwas bieten, was ihnen die Gesellschaft nicht bietet. Wir könnten zum Beispiel sehr viel mehr in den sozialen Netzwerken tun. Im Bereich Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit sehen wir, dass Radikalisierung über soziale Netzwerke einfacher und leichter funktioniert. Wir müssen uns fragen, ob politische Bildung da eigentlich angemessen aufgestellt ist. Das ist zwar ein sehr schwieriges Unterfangen, weil die Jugend nach Autonomie sucht und nicht von außen gesteuert oder beeinflusst werden möchte. Aber politische Bildung kann Möglichkeiten schaffen, kreativ an politischen Entscheidungen teilzuhaben.
Bei jungen Menschen muss auch klar sein, dass die Vorstellungen von Politik direkt etwas mit ihrem Alltag zu tun haben. Es reicht nicht zu sagen: „Wir sind eine Schule ohne Rassismus“, Jugendliche brauchen eine Stimme und einen Ort, an dem sie ihre Kritik äußern können. Genau das möchte ja auch das Projekt „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Politische Bildung sollte sich auch immer fragen, welche Kommunikations- und Reflexionsformate Jugendliche brauchen.
Ebenso sollten wir berücksichtigen, dass bei Jugendlichen Leistungsdruck eine große Rolle spielt. Interessieren sich manche vielleicht mehr für politische Bildung, wenn sie zugleich eine Kompensation für den Leistungsdruck bietet? Das ist zwar eine dramatische Frage, über die wir aber mal nachdenken könnten.
TpB: Welche Rolle spielt das Thema Gewalt?
AZ: Gewalt ist ein wichtiges Thema für Jugendliche. Aus der Mobbing- und Bullyingforschung wissen wir, dass man dafür auch das Thema Zivilcourage mit jungen Menschen attraktiv nutzen kann. Zum Beispiel habe ich nach dem Attentat in Paris festgestellt, das gerade in den Schulen und Betrieben junge Menschen darüber diskutieren, warum sich andere ihrer Generation so sehr radikalisieren, dass sie eine so bestialische und facettenreiche Gewalt ausüben. Bei diesen Fragen muss man Jugendliche abholen. In vielen Schulen und Betrieben wurde das aber überhaupt nicht thematisiert. Das passierte nur punktuell, wenn sich einzelne Lehrerinnen und Lehrer kompetent fühlten. In dem Moment hätte man sehr viele weiterreichende Diskussionen führen können. Jugendliche beschäftigen sich beispielsweise auch mit Hate-Speech und fragen sich, wie weit sie gehen können. In bestimmten Bereichen wie zum Beispiel Mobbing ist schon viel gemacht worden, aber mit dem Blick auf menschenfeindliche Radikalisierungen könnte man auch im Bereich von politischer Bildung noch einiges ausprobieren.
TpB: Haben Sie dazu ein Beispiel?
AZ: Wir haben mit der Amadeu Antonio Stiftung in Schulen ein sehr gutes Projekt zum Thema Ungleichwertigkeitsvorstellungen entwickelt. Um die Schülerinnen und Schüler zu erreichen haben wir uns dazu entschieden, nicht über die direkte Ansprache von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu gehen, sondern diese Themen über das Thema Gleichwertigkeit zu diskutieren. Wir haben das Thema Abwertung nicht direkt adressiert, weil dann oft sofort die Schotten hochgehen unter dem Motto: „Wir sind ja alle tolerant, Rassismus hat mit mir nichts zu tun.“ In den Schulen haben wir dann einen ganzen Tag lang mit Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern über gemeinsame Vorstellungen von Gleichwertigkeit und Ungleichwertigkeit gesprochen. Das wurde kombiniert mit einer Diskussion über Kinderrechte, denn die Frage nach Gleichwertigkeit ist ja immer auch eine Rechtsfrage. Hilfreich war, dass das Projekt an Schulen durchgeführt wurde, da so auch die Kommunen dahinterstanden. Und wir konnten feststellen, dass das Projekt dann auch dort längerfristige Effekte hatte, wo die Institutionen es unterstützen und es nicht nur von einzelnen Lehrerinnen und Lehrern getragen wurde.
TpB: Über welche Themen kann politische Bildung Menschenfeindlichkeit und Rassismus noch aufgreifen?
AZ: Ein Thema, dass viele junge Menschen beschäftigt ist zum Beispiel „Schubladendenken“. Die Gesellschaft konfrontiert sie ständigen mit Bildern, welche Muslime und Islam als etwas „Anderes“ darstellen. Wir haben gerade in einer Studie festgestellt, dass viele Schülerinnen und Schüler aber keine klaren Kategorien von muslimischen Menschen und Islam haben. Sie wachsen zum Beispiel in einer Region mit einem hohen Anteil an muslimischen Menschen auf und stellen fest, dass diese Kategorien die Wirklichkeit nicht erklären. Das heißt, sie haben diese Schubladen gar nicht, lernen aber, dass sie in der Mehrheitsgesellschaft offensichtlich sehr wichtig sind. Und jetzt stellt sich die Frage, wie Bildung und auch politische Bildung darauf reagiert. Mache ich die Schubladen sichtbar und auffällig oder sage ich den Lehrerinnen und Lehrern, dass die Schülerinnen und Schüler die Schubladen, die sie beseitigen wollen, gar nicht haben. Man kann als Lehrerin und Lehrer, als politische Bildnerin und Bildner, als Erzieherin und Erzieher verlernen, andere ständig mit Stereotypen zu bedrohen.
Mir fällt noch ein wichtiges Thema ein: Meiner Erfahrung nach bekommt man Aufmerksamkeit, wenn man aufzeigt, wie andere Menschen von Menschenfeindlichkeit geschädigt werden. Es lässt sich gut vermitteln, dass Stereotypen und Vorurteile bedrohlich sind. Das heißt, ich rede nicht über Rassismus und Theorien, sondern ich rede darüber, wie eigentlich die Perspektive meines sozialen Raumes durch die Augen eines wohnungslosen Menschen ist? Über die Möglichkeit, Perspektiven von Opfern von Vorurteilen einnehmen zu können, wird leichter verständlich, wie die Mechanismen der Abwertung der Menschenfeindlichkeit funktionieren.
TpB: Welche Akteure oder Personen(gruppen) sollte politische Bildung (noch) stärker in ihre Arbeit mit einbeziehen?
AZ: Wir beschäftigen uns sehr viel mit Gewalt. In dem Zusammenhang ist zum Beispiel auch die Polizei teilweise Vermittler bzw. Sozialisationsagent. Wo Jugendliche auf Behörden und Institutionen treffen haben, wir für den Bereich der politischen Bildung zu wenig Aus- und Weiterbildung. Da könnte man sehr viel mehr machen.
Auch Eltern sind Sozialisationsagenten, die eigentlich mit in die politische Bildung eingeschlossen werden müssen. Das Problem ist aber, dass sie keine Möglichkeit bekommen sich zu bilden. Man muss versuchen Eltern wieder stärker in das System zu integrieren. Wenn Schülerinnen und Schüler in der Schule tolle Projekte zum Thema Rassismus durchführen, dann kommen bei der Projektpräsentation die Lehrkräfte und die Schülerinnen und Schüler, nur die Eltern nicht. So stellen junge Menschen fest, dass es offensichtlich Parallelwelten gibt, dass die Gesellschaft in Parallelwelten eingerichtet ist und dass das auch so sein soll.
TpB: Sie haben auch ältere Menschen als wichtige Zielgruppe für die politische Bildung angesprochen. Was zeigen Ihre Untersuchungen in Bezug auf diese Gruppe?
AZ: Bei älteren Menschen zeigen sich höhere Werte vor allem im Bereich Antisemitismus, Sexismus und Islam- und Muslimfeindlichkeit. Im Bereich rechtextremer Einstellungen finden wir den höchsten Wert immer beim nationalen Chauvinismus.
Bei den älteren Menschen müssen wir zwischen verschiedenen Effekten entscheiden. Wir bräuchten eigentlich Längsschnittstudien, um abzuschätzen, ob die These stimmt, dass wir im Alter immer wertkonservativer werden oder ob wir dann einfach sensibler auf einen bestimmten Zeitgeist reagieren. Wir sehen bei den älteren Befragten die höchsten Werte bei denjenigen, die aus der Gesellschaft rauszurutschen drohen. Und da suggeriert Populismus eine Einbindung, ohne dass ich groß etwas tun muss. Die höchsten Werte bei Vorurteilen und rechtsextremen Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft haben ältere arbeitslose ostdeutsche Frauen. Diese Gruppe hat tatsächlich die stärksten sozialen Probleme, wenn sie keinen Migrationshintergrund hat.
Viele Ältere haben eine andere politische Bildung erfahren und sind auf diese neue Form einer kommunikativen, sehr schnellen und sehr offenen Gesellschaft nicht hinreichend vorbereitet. Sie sind daher anfälliger für Populismus.
Und dann gibt es eine Gruppe von Älteren, die sich von den Versprechen des Populismus angesprochen fühlt, nochmal ein ganz neuer Akteur in der öffentlichen Diskussion zu werden unter dem Motto: „Wir geben dir eine Stimme und du kannst hier sagen, was du denkst“. Das zeigt zum Beispiel auch das Buch von Thilo Sarrazin. Wenn man die Buchmarktanalysen studiert, sieht man, dass es die älteren Männer mit ihren alten Männlichkeitsvorstellungen sind, die das Buch lesen.
TpB: Welche Möglichkeit sehen Sie für politische Bildung ältere Menschen zu erreichen?
AZ: In Veranstaltungen der politischen Bildung haben wir bereits sehr viel ältere Teilnehmende. Meiner Meinung nach müsste man aber genau das Thema aufgreifen, das Ältere interessiert, die Überalterung. Über die Frage: „Was kann ich tun in der Gesellschaft?“, müsste man einen Zugang finden. In den letzten zwei Jahren konnten wir mit der Willkommenskultur ein sehr schönes Projekt beobachten, in dem ältere Menschen für sich einen politischen Ort gefunden haben. In den Unterkünften von geflüchteten Menschen tauchten auf einmal ältere Menschen auf, die vorher praktisch nur hinter den Gardinen in ihren Häusern saßen. Es gibt also dieses ehrenamtliche Potenzial, dass man mit politischer Bildung aufgreifen kann. Ich würde mich freuen, wenn wir in den Unterkünften dann auch die Möglichkeit hätten, älteren Menschen ein Weiterbildungsangebot anbieten zu können, zum Beispiel im Bereich des Asylrechts. Unsere Studien zeigen auch, das dort noch andere Gruppen auftauchen, die in der politischen Bildung eigentlich eher unterrepräsentiert sind: Menschen mit Migrationshintergrund. Über diese Gruppe sollte man auch nochmal gesondert nachdenken. In vielen Veranstaltungen der politischen Bildung sind Menschen mit Migrationshintergrund zurückhaltender, weil sie denken, das sei etwas für die weiße Mehrheitsgesellschaft, aber noch nicht für sie. Man sollte überlegen, ob man auch diese Zielgruppen zum Beispiel über ehrenamtliche Aktivitäten erreichen kann.
Veröffentlicht am 29. Juni 2016