„Politische Bildung braucht Forschung zu Alltagsrassismus.“ Interview mit Karim Fereidooni (Teil 2)
Prof. Dr. Karim Fereidooni ist Juniorprofessor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, welche Schlussfolgerungen er für die politische Bildung aus seiner Forschung zu Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen von Lehrkräften mit sogenanntem Migrationshintergrund zieht.
Prof. Dr. Karim Fereidooni ist Juniorprofessor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, welche Schlussfolgerungen er für die politische Bildung aus seiner Forschung zu Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen von Lehrkräften mit Migrationshintergrund zieht.
Transferstelle politische Bildung: Welche Erkenntnisse Ihrer Forschung zu Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen von Lehrkräften mit Migrationshintergrund sind für die politische Bildung besonders relevant?
Karim Fereidooni: Vor dem Hintergrund der von mir herausgearbeiteten Dethematisierungsstrategien finde ich interessant, dass Alltagsrassismus aus der Mitte der Gesellschaft für die politische Bildung bislang nur eine marginale Rolle spielt. Das betrifft auch die Forschung. In der politischen Bildung geht es vor allem um Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus und Prävention. Ich versuche daher, in meinen Lehrveranstaltungen Alltagsrassismus zu thematisieren und in diesem Bereich zu publizieren. Meiner Meinung nach braucht die politische Bildung Forschung zu Alltagsrassismus, also zu Personen, die von sich selbst meinen, sie seien nicht rassistisch. Es geht dabei nicht um Schuld, sondern um Verantwortung. Hier spielt auch die Unterscheidung zwischen Antirassismus und Rassismuskritik eine Rolle, die in der politischen Bildung bisher noch nicht so angekommen ist. Ich glaube politische Bildner_innen operieren konzeptionell immer noch mit Antirassismus nach dem Motto: „Wir sind die Guten, wir stehen auf dem Boden des Grundgesetzes und wir müssen andere anleiten, auch grundgesetztreu zu sein und nicht rechtsextremistisch zu denken“. Dieser antirassistische Ansatz ist meiner Meinung nach verkürzt. Ich glaube, dass alle in Deutschland sozialisierten Personen – auch die mit Migrationshintergrund – rassistisches Wissen besitzen*.
TpB: Was bedeutet das für politische Bildner_innen in der Praxis?
KF: Wir müssen als politische Bildner_innen anerkennen, dass es nicht darum geht, Personen als Nazis zu entlarven, sondern darum, wer welche Privilegien in unserer Gesellschaft besitzt und was die eigenen rassismusrelevanten Wissensbestände damit zu tun haben. Privilegien sind oft unsichtbar. Bei Privilegien geht es z.B. darum, ob ich den Kölner Hauptbahnhof betreten kann und nicht als einzige Person von der Bundespolizei nach dem Ausweis gefragt werde, ob ich Samstagabends in Clubs komme, ohne zwei blonde Freund_innen mitnehmen zu müssen oder ob ich mich am Telefon auf ein Wohnungsinserat mit Fereidooni melden kann, ohne dass jemand weiß, dass ich Juniorprofessor bin und trotzdem die Wohnung bekomme. Bei Rassismuskritik geht es also darum, sich selbst nicht aus der rassismusrelevanten Matrix auszunehmen. Ich glaube das ist das Schwierigste, was man beim Thema Rassismus in Bezug auf die politische Bildung leisten muss.
TpB: Hat sich das Thema Rassismus aktuell durch die Situation geflüchteter Menschen in Deutschland verändert?
KF: Ich befürchte, dass in Bezug auf geflüchtete Menschen ganz alte Muster der Ausländerpädagogik wieder zunehmen. Plötzlich spielt Integration und der Erwerb der deutschen Sprache wieder eine sehr große Rolle, zu Recht und zu Unrecht. Zu Recht, weil die Menschen natürlich Deutsch lernen müssen. Zu Unrecht, weil ich glaube, dass Sprache wieder als Schlüssel für Integration gesehen wird und man glaubt, alle Probleme seien gelöst, wenn man Deutsch spricht. Aber das stimmt nicht. Mit alten Mustern der Ausländerpädagogik meine ich auch eine Haltung unter dem Motto: „Wir müssen jetzt den Geflüchteten beibringen, wie eine Demokratie funktioniert.“ Genau zu dem Thema habe ich mit Kolleg_innen gerade einen Forschungsantrag gestellt. Wir müssen uns anschauen, welche Demokratievorstellungen geflüchtete Schüler_innen in Willkommensklassen besitzen. Die Vorstellung, dass wir als politische Bildner_innen denen zeigen müssen, wie Demokratie funktioniert, ist eine eindimensionale Sichtweise. In Deutschland spielt beispielsweise Sexismus eine Rolle und zwar nicht nur bei Personen, die als nicht-weiß wahrgenommen werden, sondern bei „ganz normalen Deutschen“. Wenn man sich bestimmte Demonstrationen und Wahlergebnisse anschaut, glaube ich nicht, dass jede weiße deutsche Person auf dem Boden des Grundgesetzes steht.
TpB: Welche Rolle sollte politische Bildung in der Schule einnehmen, wenn es um Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen im Schulwesen geht?
KF: In den Lehrplänen steht eigentlich genug drin, aber ich zweifle an den Kompetenzen der Lehrkräfte, was Rassismus anbelangt. Sie haben häufig wirklich vage und schwierige Vorstellungen in Bezug auf Rassismus. Beispielsweise glaube ich, dass die meisten nicht den Unterschied zwischen Diskriminierung und Rassismus erklären können.
Meiner Meinung nach sollte Rassismuskritik eine Professionskompetenz von Lehrkräften sein. Rassismus sollte nicht als „schlimmes Wort“ oder Ausnahmeerscheinung bewertet werden. Rassismus ist keine Ausnahmeerscheinung in Schule und Gesellschaft. Ich biete in Bochum rassismuskritische Seminare an. Darin lesen wir z.B. Texte zu Racial Profiling damit die Studierenden erkennen, was das Problem ist, wenn Personen aufgrund des äußeren Erscheinungsbilds willkürlich herausgegriffen werden. Neben den theoretischen Grundlagen geht es darum, wie man das Thema im Unterricht der Fächer Politik/Wirtschaft oder Sozialwissenschaften einbetten kann.
Wichtig ist es außerdem, über Gefühle zu sprechen und über das eigene Leben und über die eigene Involviertheit nachzudenken, gerade auch in der Ausbildung der Lehrkräfte. Ich frage meine Studierenden immer, welche Rolle ein bestimmter Sachverhalt für ihr persönliches Leben spielt. Denn ich bin der Meinung, dass z.B. Racial Profiling eine Rolle für das eigene Leben spielt, auch wenn man nicht davon betroffen ist.
TpB: Inwiefern ist Rassismuskritik eine Aufgabe der Politikdidaktik?
KF: Das Alleinstellungsmerkmal der Politikdidaktik ist meiner Meinung nach ihr normativer Anspruch. Ich meine damit eine Haltung unter dem Motto „Wir müssen den Schüler_innen nicht nur den Unterrichtsstoff beibringen, sondern auch, reflektiert zu denken und Demokratie wertzuschätzen.“ Wenn man diesen Anspruch an Demokratisierung oder Demokratiefähigkeit ins Zentrum stellt, dann spielt die Wahrnehmung von Rassismuserfahrungen und das Aussprechen, dass es Rassismus gibt, eine wichtige Rolle. Auf der einen Seite hebt der normative Anspruch die politische Bildung in Bezug auf ihre Verantwortung gegenüber Rassismus oder Alltagsrassismus in der Schule tätig zu werden etwas heraus und auf der anderen Seite würde ich aber auch sagen, dass Rassismuskritik nicht nur von Politiklehrer_innen betrieben werden sollte. Sie sollte eine Querschnittsaufgabe sein. Ich gebe grade einen Sammelband zu rassismuskritischen Fachdidaktiken raus, in dem alle Unterrichtsfächer in Bezug auf Rassismuskritik beleuchtet werden. Die Fachdidaktiker_innen thematisieren im ersten Teil ihres Beitrags einen spezifischen rassismusrelevanten Aspekt ihres Fachs und machen im zweiten Teil dann Unterrichtsvorschläge.
TpB: Inwiefern könnten Kooperationen zwischen Schule und außerschulischer Bildung dazu beitragen für Rassismus und Diskriminierung zu sensibilisieren?
KF: Dazu fällt mir das Projekt „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ ein, bei dem ein außerschulischer Träger in die Schule hineingeht. Ich glaube das Projekt ist sehr gut, aber ich glaube auch, dass die Plakette „Schule ohne Rassismus“ kontraproduktiv wirkt. Das habe ich auch in einem Interview mit einer Lehrkraft gemerkt, die gesagt hat: „Ich kann hier meine Rassismuserfahrungen nicht äußern, weil wir eine ,Schule ohne Rassismus‘ sind. Ich möchte keinen Ärger kriegen.“ Das Label kann dazu führen, dass Rassismuserfahrungen dethematisiert werden. Es gibt aus meiner Sicht keine Schule ohne Rassismus. Demnächst veröffentliche ich mit Jette Stockhausen, die sich mit diesem Projekt in ihrer Masterarbeit befasst hat, einen Artikel, in dem wir genau dieses Problem thematisieren.
Kooperationen mit außerschulischen Partnern können für die Sensibilisierung gegenüber Rassismus in der Schule hilfreich sein. Sie entlasten die Lehrkräfte aber nicht von der Verantwortung, selbst ihr Professionsprofil mit rassismuskritischem Wissen anzureichern. Außerschulische politische Partner können nur eine Ergänzung des Unterrichts sein.
Anmerkung
* Mithilfe von Rassismus lässt sich der individuelle und gesellschaftliche Alltag strukturieren. Das hierzu angewendete Wissen wird daher als „rassistisches Wissen“ bezeichnet. Dieses Wissen stellt Individuen und Gesellschaften ein Interpretationsangebot zum Verstehen sozialer Vorgänge bereit und bietet ihnen eine Option, soziale Welt mittels rassistisch konstruierter Kategorien zu strukturieren. Das rassistische Wissen ist ebenso wie das grammatikalische, pädagogische und wirtschaftliche Wissen eines Menschen, ein erworbenes Wissen. Demnach existiert das rassistische Wissen nicht qua Geburt, sondern qua Sozialisation. Rassismus ist nicht irrational oder angeboren, es ist von Menschen gemacht und folgt einer Logik: Rassistisches Wissen dient als Legitimationsgrundlage, um Ungleichheitsverhältnisse etablieren und aufrechterhalten zu können. Bereits Kleinkinder besitzen rassistisches Wissen und benutzen dieses, um sich selbst und ihr soziales Umfeld zu kategorisieren. Das rassistische Wissen wird beispielsweise mithilfe rassistischer Wörter, Kinder- und Schulbücher, Reiseliteratur und der Medienberichterstattung (re)produziert.
Veröffentlicht am 20. März 2017
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