„Man kann hundert Mal sagen, ,Ich bin Deutscher‘. Es kommt darauf an, wie die Kolleginnen, Kollegen und Vorgesetzten einen sehen.“ Interview mit Karim Fereidooni (Teil 1)
Prof. Dr. Karim Fereidooni ist Juniorprofessor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum. Wir haben mit ihm über seine Forschung zu Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen von Lehrkräften mit Migrationshintergrund gesprochen.
Prof. Dr. Karim Fereidooni ist Juniorprofessor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum. Wir haben mit ihm über seine Forschung zu Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen von Lehrkräften mit Migrationshintergrund gesprochen.
„Politische Bildung braucht Forschung zu Alltagsrassismus.“ Interview mit Karim Fereidooni (Teil 2)
Transferstelle politische Bildung: Sie haben in Ihrer Dissertation unter dem Titel „Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen im deutschen Schulwesen“ sowohl quantitativ als auch qualitativ geforscht. Wen haben Sie im quantitativen Teil befragt und was waren die Ergebnisse?
Karim Fereidooni: Es handelt sich bei meiner Arbeit um die erste deutschsprachige Dissertation zu Lehrkräften mit sogenanntem Migrationshintergrund* und ihren Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen. Ich habe 159 Lehrkräfte mit einem Fragebogen befragt, um Daten zu dieser Personengruppe zu generieren. Ein diskriminierungsrelevantes Ergebnis ist, dass 60 Prozent der Lehrkräfte angaben, dass sie Diskriminierungserfahrungen machen und 40 Prozent, dass sie keine machen. Eine weitere Erkenntnis war, dass es vor allem Kolleg_innen und Vorgesetzte sind, die die Lehrkräfte diskriminieren. Schüler_innen und deren Eltern spielen eine geringere. Das überrascht allerdings nicht und lässt sich durch das Hierarchieverhältnis zwischen Lehrkräften und Schüler_innen erklären. Mit den Eltern gibt es zu wenig Kontakt.
TpB: Was wollten Sie durch den qualitativen Teil der Untersuchung herausfinden?
KF: Ich habe mit fünf Lehrkräften, die im Fragebogen angegeben haben, dass sie Diskriminierungserfahrungen gemacht haben und mit fünf, die angegeben haben, dass sie keine gemacht haben, problemzentrierte Interviews geführt. Ich wollte ermitteln, warum einige Diskriminierungserfahrungen machen und andere nicht.
TpB: Was waren Ihre zentralen Erkenntnisse?
KF: Die spannendste Erkenntnis war, dass sich bei den Lehrkräften, die in der quantitativen Befragung angegeben hatten, dass sie keine Diskriminierung erfahren, in der qualitativen Untersuchung dann herausstellte, dass sie alle sehr wohl massive Diskriminierungserfahrungen machen. Ich habe daher sogenannte Dethematisierungsstrategien herausgearbeitet. Damit meine ich Strategien, die dazu führen, dass jemand glaubt, keine Diskriminierungserfahrungen zumachen, obwohl das Gegenteil der Fall ist.
Eine Strategie ist, Diskriminierung als selbstverschuldet zu erklären. Eine Lehrkraft sagte zum Beispiel: „Also wenn wir uns integrieren und anpassen, dann werden wir nicht diskriminiert. Das ist eigentlich unsere eigene Schuld. Die Lehrkräfte sollen aufhören zum Beispiel Kopftuch zu tragen oder eine nicht-deutsche Sprache im Lehrerzimmer zu sprechen.“ Eine weitere Dethematisierungsstrategie ist Verdrängung oder Verharmlosung, da man dazugehören möchte. Diskriminierende Äußerungen werden dabei von den diskriminierten Lehrkräften als Scherz bewertet oder mit Äußerungen wie „das war doch gar nicht böse gemeint“ bagatellisiert, obwohl vorab im Interview eine massive Diskriminierung geschildert wurde. Diese Erkenntnisse der Dethematisierungsstrategien habe ich dann mit den Erkenntnissen von Astrid Messerschmidt verknüpft, die vier Distanzierungsmuster für die Schwierigkeit, Rassismus in der bundesdeutschen Gesellschaft zu benennen, herausgearbeitet hat.
(Messerschmidt(2010): Distanzierungsmuster. Vier Praktiken im Umgang mit Rassismus. In: Broden/Mecheril (Hrsg.): Rassismus bildet. Bielefeld, S. 41-57 mehr)
TpB: Welche Distanzierungsmuster sind das?
KF: Sie spricht von „Skandalisierung“ und „Kulturalisierung des Rassismus“, von der „Verschiebung in den Rechtsextremismus“ und einer „Verlagerung in die Zeit von 1933-45“. Mit „Skandalisierung“ meint sie, dass nicht die Tat an sich skandalisiert wird, sondern dass es als skandalisierend empfunden wird, wenn jemand äußert, es gäbe Rassismus. Mit „Kulturalisierung von Rassismus“ beschreibt sie, wie Rassismus nicht mehr einer biologistischen Sichtweise folgt, sondern kulturelle Muster annimmt und dadurch immer salonfähiger wird. Die „Verschiebung in den Rechtsextremismus“ spielt auch bei den von mir interviewten Lehrkräften eine Rolle. Es wurde beispielsweise damit argumentiert, dass ein Kollege verbeamtet und seit 20 Jahren in der SPD ist und dementsprechend kein Nazi oder Rassist sein kann. Die Verortung des Alltagsrassismus in den Bereich des Rechtsextremismus dient dazu, persönliche Anteile an sozialisierten alltagsrassistischen Wissensbeständen auf das Wissen um rechtsextremistische Positionen zu schieben. Mit der „Verlagerung von Rassismus in die Zeit von 1933-45“ beschreibt sie die Vorstellung, dass es heute keinen Rassismus mehr in Deutschland gibt und man die Zeit von 1933-45 herunterspiele, wenn man heute von Rassismus sprechen würde. Diese Distanzierungsmuster, mit denen die befragten Lehrkräfte sozialisiert wurden, haben einen Einfluss auf die Wahrnehmung ihrer eigenen Rassismuserfahrungen – deswegen „dethematisieren“ sie diese.
TpB: Was haben Sie noch herausgefunden?
KF: Ein weiterer Befund meiner Forschung ist, dass die Wahrnehmung von Sprache eine sehr große Rolle spielt, auch im Lehrer_innenzimmer. D.h. beispielsweise, dass alle Sanktionsmaßnahmen, die wir in der Öffentlichkeit in Bezug auf Sprachenvielfalt oder monolingualen Habitus kennen, auch im Lehrer_innenzimmer eine Rolle spielen. In den Interviews wurde deutlich, dass es eine Hierarchisierung der unterschiedlichen nicht-deutschen Sprachen gibt. Sprachen wie Englisch, Französisch oder Spanisch wird ein gewisser Bildungswert zugesprochen, während beispielsweise Türkisch oder Arabisch nicht als bildungsnah wahrgenommen werden. Es wird mit zweierlei Maß gemessen. Das reicht von Bemerkungen anderer Lehrkräfte, dass diese nicht-deutschen Sprachen unerwünscht sind bis zum offiziellen Verbot bestimmter nicht-deutscher Sprachen im Lehrer_innenzimmer. In einem Interview wurde sogar berichtet, dass eine bestimmte nicht-deutsche Sprache im Lehrer_innenzimmer verboten wurde, obwohl es an derselben Schule Leistungskurse in genau dieser Sprache gibt und diese Regel für andere nicht-deutsche Sprachen wie Englisch oder Spanisch nicht gilt.
Ein weiterer wichtiger Aspekt, den ich herausarbeiten konnte, ist dass Aussehen eine große Rolle bei der Bewertung von Kompetenzen spielt. Die Zuschreibung fachlicher Inkompetenz hat häufig etwas mit dem Aussehen zu tun. Z.B. werden bei Personen, die als ganz normale, weiße Deutsche wahrgenommen werden, sprachliche Fehler an der Tafel als Flüchtigkeitsfehler angesehen. Die gleichen Fehler werden bei Personen, die als Personen mit Migrationshintergrund identifiziert werden, anders wahrgenommen.
TpB: Welche Rolle spielte Weißsein oder nicht-Weißsein in Bezug auf Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen von Lehrkräften?
KF: Ich habe in meiner Arbeit unterschiedliche Rassismusformen herausgearbeitet und dargestellt. Bei der Konstruktion von Fremd- und Andersartigkeit kommt es nicht darauf an, wie man sich selbst sieht. Man kann hundert Mal sagen, „Ich bin Deutscher“. Es kommt darauf an, wie die Kolleginnen, Kollegen und Vorgesetzten einen sehen. Ein wichtiger Aspekt ist dabei auch das Weißsein oder Nicht-Weißsein. Weißsein ist hier nicht in Bezug auf die Hautfarbe gemeint, denn das Wahrnehmen unterschiedlicher Hautfarben, das wissen wir von Susan Arndt (Arndt (2012): Rassismus. Die 101 wichtigsten Fragen, München mehr), hat uns der Rassismus beigebracht Es geht darum, ob ich das Privileg habe, als Deutsche_r wahrgenommen zu werden oder ob ich ständig gefragt werde: „Woher kommst du?“, oder ob ich ständig das Kompliment bekomme: „Du sprichst aber gut Deutsch“, wie beispielsweise eine von mir interviewte Lehrkraft mit dem Fach Deutsch während ihres Vorstellungsgesprächs mit der Schulleitung. Sie hat Germanistik studiert, das Referendariat abgeschlossen und ist in Deutschland geboren. Das alles sieht der Schulleiter und sagt ihr trotzdem so etwas. Ich habe das „die Konstruktion doppelter Andersartigkeit“ genannt. Die erste Konstruktion der Andersartigkeit besteht darin: Alle Menschen mit Migrationshintergrund sprechen schlecht Deutsch. Die zweite: Du bist eine Ausnahme, denn du sprichst sehr gut Deutsch. Diese Konstruktion doppelter Andersartigkeit verhindert bei dem Schulleiter einen Veränderungsprozes der eigenen Wahrnehmung in Bezug auf Menschen mit Migrationshintergrund. Er „besondert“ die Lehrkraft, damit er seine eigenen Vorstellungen in Bezug auf Menschen mit Migrationshintergrund nicht verändern muss.
In einem anderen Interview wurde berichtet, dass Schüler_innen bei einer nicht-weißen Lehrkraft einen Akzent wahrgenommen haben. Ich konnte allerdings während meines zweistündigen Interviews mit derselben Person keinen feststellen. Genau dazu gibt es eine interessante Forschungsarbeit aus den USA. In einem Experiment mit Studierenden wurde der Ton einer Vorlesung, die mit einer weißen US-Amerikanerin aufgezeichnet wurde, zwei Mal abgespielt, einmal mit dem Bild einer asiatisch aussehenden US-Amerikanerin und beim zweiten Durchlauf mit dem Bild einer weißen US-Amerikanerin. Die Studierenden sollten jeweils entscheiden, ob die Sprecherin einen Akzent hat oder nicht. Beim ersten Durchlauf haben viele gesagt, sie besitzt einen Akzent, beim zweiten Durchlauf waren es signifikant weniger, obwohl es die identische Vorlesung war. Man kann also sagen, Sprache und Körper werden gleichzeitig analysiert. Und wenn sie scheinbar nicht zueinander passen, dann nimmt man Dinge wahr, die faktisch nicht da sind.
TpB: Spielte das Thema Islam in den Interviews eine Rolle?
KF: Muslimischsein oder als Muslim_in wahrgenommen zu werden, unabhängig vom individuellen Glaubensbekenntnis, spielt eine große Rolle in meiner Dissertation. Das betrifft Personen, die aufgrund phänotypischer Merkmale, d.h. aufgrund des äußeren Erscheinungsbilds, als muslimisch wahrgenommen werden. Diese müssen sich dafür der muslimischen Gruppen nicht selbst zuordnen, sondern werden sozusagen „muslimifiziert“ und erhalten dann alle Merkmale, die für Menschen islamischen Glaubens eine Rolle spielen.
Insbesondere das Thema Kopftuch ist in den Interviews ein wichtiges Thema. Das Beispiel einer Referendarin zeigt hier auch die Verschränkung von Sexismus und Rassismus. Nach einer Hospitationsstunde ging die Ausbildungslehrerin der kopftuchtragenden Referendarin zum Schulleiter und sagte, sie möchte mit der Referendarin nichts zu tun haben, weil das Kopftuch ein Symbol der Unterdrückung von Frauen ist. Die Referendarin musste sich daraufhin jemand anderen suchen und war drei Monate ohne Ausbildungslehrer_in, weil niemand sie ausbilden wollte. Nach drei Monaten sagte dann eine andere Lehrkraft zu ihr: „Merken Sie eigentlich nicht, dass ich nicht mit Ihnen zusammenarbeiten will? Ich würde mein Kind auch nicht an eine Schule geben, an der eine kopftuchtragende Lehrerin unterrichtet.“ An diesem Beispiel wird auch die Konstruktion kopftuchtragender Frauen deutlich, als Opfer, da das Kopftuch als Symbol der Unterdrückung gesehen wird, und gleichzeitig als Täterin, die eine Gefahr für die Kinder darstellt.
TpB: Welche Erfahrungen machen männliche muslimische Lehrkräfte?
KF: Als Beispiel wurde eine männliche Lehrkraft von Schüler_innen nach seiner Herkunft und Religion gefragt. Obwohl Letzteres ihm unangenehm ist, erzählt er aufgrund von Nachfragen ein wenig über den Islam. Die Reaktion einer Schülerin war dann: „Was? Sie sind wirklich Moslem? Sie sind doch so nett.“ Wenn Muslimischsein und Nettsein sich gegenseitig ausschließen, dann sagt das etwas über unsere Mediendiskurse und die Darstellung von muslimischen Menschen aus.
Anmerkung
* Der Zusatz „Migrationshintergrund“ ist in doppelter Hinsicht eine irreführende Bezeichnung: In quantitativer Hinsicht besitzen die meisten der gegenwärtig in Deutschland lebenden Menschen unter 25 Jahren, die mit diesem Zusatz belegt werden, keine aktive Erfahrung als Zugewanderte, weil sie in der BRD sozialisiert worden sind. Diesbezüglich muss zudem die Frage gestellt werden: Wie lange wird ein Mensch als „Migrant_in“ oder „Person mit Migrationshintergund“ bezeichnet? In qualitativer Hinsicht gebietet die Heterogenität der Lebensrealitäten von Menschen „mit Migrationshintergrund“ das Hinterfragen dieses pauschalisierenden Begriffs, da dieser eine scheinbare Homogenität suggeriert, die faktisch nicht besteht. Beispielsweise sind die Migrationsursachen sehr unterschiedlich. Zudem wird bestimmten Personen ein Migrationshintergrund unterstellt, weil sie nicht dem Bild von weiß-deutschen Personen entsprechen. Gleichzeitig ist es ein Trugschluss zu glauben, dass die o.g. Einwände gegen die Verwendung des Begriffs „Migrationshintergrund“ dazu führen müssten, keinerlei linguistische, gesellschaftspolitische und wissenschaftliche Unterscheidungen zwischen Personen „mit und ohne Migrationshintergrund“ zu treffen. Die Sozialisations- und Lebenserfahrungen der Personengruppe „mit Migrationshintergrund“ in der hiesigen Gesellschaft gleichen sich in einem wesentlichen Punkt, abhängig vom jeweiligen „Herkunftsland“ oder den „Herkunftsländern“ ihrer Vorfahren, ihren Migrationsbeweggründen und ihrer Verweildauer in der BRD. Als wesentliche Alltagserfahrung von „Migrant_innen“ kann demnach die (institutionelle) Diskriminierung und rassistische Diskriminierung angenommen werden. Demnach bringt die Unterscheidung zwischen Personen „mit und ohne Migrationshintergrund“ semantisch zum Ausdruck, dass sich die Sozialisations- und Lebensrealitäten der beiden Personengruppen nicht gleichen, weil der angenommene, zugeschriebene oder faktisch bestehende „Migrationshintergrund“ als Diskriminierungsgrundlage genutzt wird.
Veröffentlicht am 20. März 2017
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