Fachtagung „Forschungs- und Praxisfelder politischer Bildung“
Wir lernen hinzu und entwickeln uns weiter! Auch wenn wir pandemiebedingt weiterhin nur digital tagen können und die persönlichen Begegnungen und den Austausch sehr vermissen: Am 2. und 3. November 2020 hat die Fachstelle politische Bildung / Transfer für Bildung e.V. die zweitägige Fachtagung „Forschungs- und Praxisfelder politischer Bildung“ gemeistert. Gute Teamarbeit, gelungene Kooperation mit der Berliner Landeszentrale für politische Bildung sowie technische Unterstützung durch die Akademie Klausenhof gGmbH haben es möglich gemacht.
Fachliche Motivation für die Tagung war unter anderem die Beobachtung, dass politische Bildung zwar als Bedingung für eine faire, nachhaltige und diverse demokratische Gesellschaft gilt, sie angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation aber auch stark herausgefordert ist. Unter anderem stellen zunehmende extremistische Einstellungen den Erhalt der Demokratie und den sozialen Zusammenhalt in besonderer Weise auf die Probe. Parallel erschwert wachsender Legitimationsdruck auf das Wissenschaftssystem fachliche Diskurse. Gleichzeitig steht politische Bildung / Demokratiebildung hoch im Kurs: Die „Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter“ ist Thema des 16. Kinder- und Jugendberichts, Bildungsakteure wie Empowerment-Organisationen rücken ins Blickfeld politischer Bildung, unterschiedliche Praxisfelder nähern sich an und betonen Gemeinsamkeiten, jenseits konzeptioneller und struktureller Unterschiede. Angesichts dieser Entwicklungen wollte die Fachstelle das Potenzial der zahlreichen, vielfältigen Akteure und Ansätze politischer Bildung im Rahmen einer Fachtagung sichtbar machen und durch Inputs, Austausch und Debatten stärken.
„Für eine Ökologie des Wissens – Herausgeforderte Forscher*innen, skeptische Laien und die Rolle der politischen Bildung“: Philosophischer Denkanstoß von Maximilian Probst
In seiner Keynote fragte der Journalist und Publizist nach der Rolle der Wissenschaft in Zeiten steigender Wissenschaftsskepsis bei gleichzeitiger Verwissenschaftlichung von Politik bzw. politischen Entscheidungen. Weil Wissenschaft einen gesellschaftlichen Minimalkonsens (Common Sense) zu schaffen imstande sei und wissenschaftliche Erkenntnisse in hohem Maße die Gesellschaft beeinflussten, sieht Maximilian Probst in ihr ein Fundament unserer Demokratie. Allerdings habe das Wissenschaftssystem den Hang zum Elitären, aufgrund der nach wie vor großen Bildungsungleichheit sowie mangelnder Kenntnisse über Wissensgenerierung und das Wissenschaftssystem. Auch gelten wissenschaftliche Erkenntnisse nur so lange als „wahr“, wie sie nicht falsifiziert werden; die Untersuchung ein und desselben Sachverhalts könne je nach Forschungsperspektive und -design zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Wissenschaft könne und solle deshalb nicht alleinige Entscheidungsgrundlage für (politische) Entscheidungen sein, weshalb Maximilian Probst für eine starke politische Bildung und „skeptische Laien“ als Korrektiv plädierte.
„Politische Bildung als Schlüssel für eine faire, nachhaltige und diverse demokratische Gesellschaft – Pfeifen im Walde oder realistische Perspektive?“: Das Auftakt-Panel
Auf dem einstündigen Auftakt-Panel diskutierten Ina Bielenberg (Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten e.V.), Daniel Gyamerah (neue deutsche organisationen e.V., Each One Teach One e.V., Citizens For Europe gUG) Hanna Lorenzen (Bundestutorin der Ev. Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung), Prof.in Dr.in Monika Oberle (Universität Göttingen) und Prof. Dr. Albert Scherr (Pädagogische Hochschule Freiburg) über aktuelle Entwicklungen und Tendenzen in der politischen Bildung. Moderiert wurde das Panel von Thomas Gill (Berliner Landeszentrale für politische Bildung) und Dr.in Helle Becker (Fachstelle politische Bildung / TfB e.V.).
Albert Scherr konstatierte, dass angesichts einer „Gefährdung der Demokratie“ durch Extremismus, Faschismus und Tendenzen hin zu einer Postdemokratie* eine starke politische Bildung notwendiger denn je sei. Dafür sei es wichtig, sich allen Praxisfeldern zuzuwenden, in denen politische Bildung angeboten und praktiziert wird. Er gab allerdings zu bedenken, dass man eine klare Definition und exakte Fachkonzepte politischer Bildung benötigt, ansonsten werde undifferenziert vieles als politische Bildung deklariert. Anlässlich ihrer Arbeit am 16. Kinder- und Jugendbericht** wiesen Ina Bielenberg und Hanna Lorenzen darauf hin, dass es viele pädagogische Arbeitsfelder gebe, die vom Fachdiskurs politischer Bildung bisher kaum oder zu wenig wahrgenommen werden, zum Beispiel die Grundschule oder Felder der Kinder- und Jugendhilfe / Jugendarbeit. Daniel Gyamerah stimmte diesem Befund zu und brachte zusätzlich die Perspektive von Empowerment- und Selbstorganisationen ein. Politische Bildung sei immer auch Empowerment, weil sie Menschen – insbesondere Angehörige marginalisierter Gruppen – dazu befähige, sich ein eigenes politisches Urteil zu bilden und sich „politisches Gehör“ zu verschaffen. Zudem ist politische Bildung ein Prozess, bei dem alle (dazu-)lernen – auch die Träger. Neue Entwicklungen sind auch in der Schule zu beobachten. So wird im „Leitfaden Demokratiebildung“*** (Baden-Württemberg) oder im „Gesamtkonzept für die Politische Bildung an bayerischen Schulen“ (Bayern) politische Bildung / Demokratiebildung als schul- und fächerübergreifendes Prinzip eingeführt. Monika Oberle sah dies als zweischneidig an: Auf der einen Seite komme politischer Bildung in der Schule mehr Aufmerksamkeit zu, auf der anderen Seite bestehe die Gefahr, dass der Fachunterricht Politik dadurch an den Rand gedrängt werde.
*siehe z.B. Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. Frankfurt am Main
** https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/16--kinder--und-jugendbericht/162238
*** https://km-bw.de/site/pbs-bw-km-root/get/documents_E-2008466037/KULTUS.Dachmandant/KULTUS/KM-Homepage/Publikationen%202019/2019_Leitfaden%20Demokratiebildung.pdf
Chancen politischer Bildung mit Blick auf die Gesamtheit ihrer Praxisfelder, Ansätze, Akteure und Zielgruppen
In insgesamt neun Sessions wurde an beiden Tagen über viele Facetten politischer Bildung diskutiert. Wiederkehrende Diskussionspunkte und Forderungen in allen Runden waren zum Beispiel mehr Wissen und Austausch in und zwischen unterschiedlichen Praxisfeldern, in denen politische Bildung angeboten wird. Die Bedarfe seien je nach Praxisfeld unterschiedlich: Bei einigen sei zunächst eine Annäherung, etwa durch Gespräche, notwendig, zum Beispiel zwischen Akteur_innen von Empowerment-Initiativen/Selbstorganisationen und etablierten Trägern politischer Bildung. In anderen Praxisfeldern wie Bildung für nachhaltige Entwicklung oder kulturelle Bildung unterstützten beispielsweise vertiefende Fachtagungen zu politischer Bildung dabei, eine Zusammenarbeit anzuregen und zu verstärken oder sich gemeinsam fachlich weiterzuentwickeln.
Auch die Begriffsvielfalt (politische Bildung, Demokratiebildung, Demokratiepädagogik etc.) war ein wiederkehrendes Thema. Die unterschiedlichen Begrifflichkeiten führen oft zu polarisierenden, separierenden Diskussionen, teilweise herrscht Unklarheit über deren historische Genese und die jeweilige Bedeutung in einzelnen Praxisfeldern. Viele Teilnehmende fanden es deshalb lohnend, sich unabhängig vom Begriffsgebrauch gegenseitig kennenzulernen und gemeinsame Qualitätsvorstellungen zu entwickeln. Hier sei es vorteilhaft, wenn politische Bildung auch Teil der Ausbildung und Qualifizierung aller pädagogischen Fachkräfte werde. In einigen Sessions wurde die Separierung und Diversifizierung der Forschung zu politischer Bildung deutlich. So sind es im Sport v.a. Wissenschaftler_innen aus den Sport- und Bewegungswissenschaften, die über politische Bildung / Demokratiebildung forschen. Wissenschaftler_innen die politische Bildung / Demokratiebildung / Politikdidaktik als Forschungsschwerpunkt(e) haben, forschen kaum zum Praxisfeld Sport. Summa summarum machten sich die meisten Teilnehmenden für mehr Austausch und Zusammenarbeit stark. „Es gibt noch viel zu tun“ – und die Bereitschaft dazu ist groß – kann als Fazit der Fachtagung gezogen werden.