„Mädchen und junge Frauen müssen besonders angesprochen werden.“ Interview mit Martina Gille

Martina Gille ist Soziologin und Leiterin des Kompetenzteams Jugend beim Deutschen Jugendinstitut (DJI). Für die Studie des Forums Jugend und Politik der Friedrich-Ebert-Stiftung „Wie politisch ist die heutige Jugend wirklich?“, die gemeinsam mit dem Deutschen Jugendinstitut durchgeführt wurde, hat sie Formen des politischen Engagements untersucht. Nachdem die Shell-Jugendstudie 2015 titelte: „Die deutsche Jugend: politisch wie seit 30 Jahren nicht mehr“ wurde in der Studie danach gefragt, wie sich junge Menschen wirklich politisch beteiligen, welche Faktoren politisches Engagement befördern und was Jugendliche, die sich besonders engagieren, antreibt. Im Gespräch mit der Transferstelle politische Bildung berichtet Martina Gille über die Ergebnisse der Studie.


Martina Gille

Martina Gille (Foto: David Ausserhofer)

Martina Gille ist Soziologin und Leiterin des Kompetenzteams Jugend beim Deutschen Jugendinstitut (DJI). Für die Studie des Forums Jugend und Politik der Friedrich-Ebert-Stiftung „Wie politisch ist die heutige Jugend wirklich?“, die gemeinsam mit dem Deutschen Jugendinstitut durchgeführt wurde, hat sie Formen des politischen Engagements untersucht. Nachdem die Shell-Jugendstudie 2015 titelte: „Die deutsche Jugend: politisch wie seit 30 Jahren nicht mehr“ wurde in der Studie danach gefragt, wie sich junge Menschen wirklich politisch beteiligen, welche Faktoren politisches Engagement befördern und was Jugendliche, die sich besonders engagieren, antreibt.

Im Gespräch mit der Transferstelle politische Bildung berichtet Martina Gille über die Ergebnisse der Studie.

 

Transferstelle politische Bildung: Frau Gille, was sind die zentralen Ergebnisse der Studie „Wie politisch ist die heutige Jugend wirklich?“?

Martina Gille: Zunächst können wir festhalten, dass nicht alle jungen Menschen an Politik interessiert sind. Man kann sagen, dass sich etwa ein Drittel der Jugendlichen stark oder sehr stark für Politik interessiert.

Das hängt natürlich auch immer von verschiedenen Faktoren ab. Nach wie vor können wir eine Geschlechterdifferenz feststellen. Das ist eigentlich ein konstantes Ergebnis der letzten Jahrzehnte in Deutschland, und ein wichtiger Faktor. Der Bereich Politik wird immer noch stark als männerdominiert wahrgenommen oder eben eher zur männlichen Rolle dazugehörig erlebt. Dadurch lässt sich erklären, dass weniger Mädchen und junge Frauen Interesse an Politik äußern. Es geht dabei aber nicht allein um das politische Interesse, damit verknüpft ist auch die Selbsteinschätzung von Mädchen und jungen Frauen, politisch kompetent zu sein oder sich regelmäßig über Politik zu informieren. Dazu zählt auch, sich mit anderen im sozialen Nahumfeld, also in der Familie, mit den Eltern oder auch im Freundeskreis über Politik zu unterhalten oder zu diskutieren.

Der Grad der politischen Involvierung ist von verschiedenen Ressourcen abhängig, wie von der bereits erwähnten Geschlechterzugehörigkeit oder vom Lebensalter. Wir haben in unserer Studie junge Menschen zwischen 14 und 29 Jahren befragt. Die Jüngeren waren, das war nicht überraschend, noch weniger an Politik interessiert. Politik ist ein Lebensbereich, der erst im Laufe des Älterwerdens und mit der politischen Sozialisation im Erwachsenwerden wichtiger wird. Das gilt auch noch für Menschen ab 30 Jahren, wie andere Untersuchungen zeigen konnten. Zwar ist der Zuwachs des politischen Interesses dann nicht mehr so ausgeprägt, aber der Prozess, sich für Politik und für öffentliche Angelegenheiten zu interessieren, ist offenbar einer, der die ganze Biografie begleitet.

Wir haben aber nicht nur nach der politischen Involvierung gefragt, sondern eben auch nach sozialen Netzen und wie politisch interessiert deren Mitglieder sind. Wenn junge Menschen selbst an Politik partizipieren, dann geben sie auch häufiger an, einen politisch aktiven Freundeskreis zu haben. Der scheint für die Motivation und auch für die tatsächliche Umsetzung von Handlungsabsichten in politisches Engagement förderlich zu sein.

TpB: Gab es Ergebnisse, die Sie überrascht haben?

MG: Wir hatten in unserer Studie auch einen gewissen Anteil an Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Es wird ja immer wieder über die Frage diskutiert, ob junge Menschen in Deutschland, die selbst über Zuwanderungserfahrungen verfügen oder die der ersten oder zweiten Migrantengenerationen angehören, genauso politisch aktiv sind wie andere junge Menschen. Wir konnten keine großen Unterschiede feststellen. Wir haben zwischen einseitigem und zweiseitigem Migrationshintergrund unterschieden. Einseitiger Migrationshintergrund heißt, dass der junge Mensch entweder über die Mutter oder über den Vater beziehungsweise die Großelterngeneration müttlerlicher- bzw. väterlicherseits über Zuwanderungserfahrungen verfügt. Bei einseitigem Migrationshintergrund gab es eigentlich kaum Unterschiede. Lediglich bei jungen Menschen, die einen zweiseitigen Migrationshintergrund haben, die also sowohl mütterlicherseits also auch väterlicherseits über Migrationserfahrungen verfügen, zeigte sich manchmal, dass sie ein bisschen weniger an Politik interessiert sind. Bei der politischen Partizipation gab es allerdings keine Unterschiede. Das finde ich, ist eine wichtige Erkenntnis.

TpB: In welcher Form beteiligen sich Jugendliche heute politisch und inwiefern hat sich das im Laufe der Jahre verändert?

MG: Wir haben ein sehr breites Spektrum an politischer Partizipation abgefragt, also konventionelle Formen, wie zu Wahlen zu gehen, in politischen Parteien und Organisationen mitzuarbeiten und unkonventionelle Formen, wie sich an Unterschriftensammlungen, Online-Petitionen und Demonstrationen zu beteiligen oder so etwas wie Konsumboykott zu betreiben, also eine durch ethische oder ökologische Gründe bestimmte Entscheidung, Waren nicht zu kaufen. Formen wie die zuletzt genannte nennt man immer gerne unkonventionelle Formen, dabei sind es mittlerweile eigentlich fest etablierte politische Beteiligungsmöglichkeiten.

Man kann sagen, dass solche Partizipationsformen, die eher punktuell stattfinden und nicht so zeitaufwändig und zudem stärker themenbezogen sind, für die Jugendlichen, die wir befragt haben, häufiger von Interesse sind.

Im Groben kann man sagen, und das gilt ebenso auch für Erwachsene, dass die unkonventionellen Formen der Beteiligung an Bedeutung gewonnen haben, also an Demonstrationen teilzunehmen, in Bürgerinitiativen mitzuarbeiten oder politisch zu konsumieren. Diese Aktionsformen sind für junge Menschen, aber mittlerweile ja auch für viele Erwachsene, sehr viel wichtiger geworden als die stärker institutionalisierten Formen der politischen Teilhabe. Dagegen wurden zeitaufwendigere Formen der Partizipation, wie zum Beispiel die Mitarbeit in einer politischen Organisation oder Partei seltener genannt.

Natürlich spielen auch onlinebasierte Aktionsformen für junge Menschen eine große Rolle.
Wir haben zum Beispiel auch danach gefragt wo, wie häufig und über welche Medien sich junge Menschen über Politik informieren. Und wenn man sich da z. B. mal die Kategorie „täglich“ anschaut, dann sagen 22 Prozent, dass sie sich im Fernsehen, 23 Prozent im Radio und 24 Prozent über Onlinemedien informieren. Das zeigt, dass die Onlinemedien oder soziale Netzwerke für junge Menschen genauso bedeutsam sind wie die klassischen Medien.

TpB: Was motiviert Jugendliche dazu, sich politisch zu engagieren?

MG: Wir haben verschiedene Motive abgefragt. Es hat sich gezeigt, dass für die Motivation erst einmal wichtig ist, dass Politik im Alltagsleben eine gewisse Rolle spielt. Das heißt, dass man sich irgendwie für Politik oder für öffentliche Angelegenheiten interessiert, dass man sich informiert und mit anderen darüber spricht. Häufig wurde auch der Wunsch genannt, etwas zur Verbesserung der Welt beizutragen, gefolgt davon, dass man auch persönlich davon profitieren will, sei es, dass man etwas dazu lernt oder dass man Selbstwirksamkeit erfährt. Für das bürgerschaftliche Engagement hat man ja bereits im weiteren Sinne festgestellt, dass es für Freiwillige eine wichtige Motivation ist, etwas dabei lernen zu können und die Erfahrungen vielleicht auch für den Berufsbereich nutzen zu können. So eine Motivation spielt auch für die politische Beteiligung bei jungen Leuten eine wichtige Rolle. Das zeigen unsere Ergebnisse. 58 Prozent gaben an, dass man von Engagement in der Politik persönlich profitieren kann. Was junge Menschen auch motiviert, ist zum Beispiel die Möglichkeit mit Gleichgesinnten und mit Gleichaltrigen etwas zu bewegen und vorwärts zu bringen. Allerdings sehen junge Leute auch sehr häufig, dass politisches Engagement viel Zeit kostet und das steht dann in einer Konkurrenz zu Freizeitaktivitäten oder anderen Aktivitäten.

TpB: Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie aus den Ergebnissen? Wie können solche Motivationen gefördert werden?

Wir haben zum Beispiel konkret danach gefragt, was die Parteien tun könnten, damit mehr junge Leute Mitglied werden. Politische Parteien spielen bei jungen Menschen ja eine sehr geringere Rolle, ca. drei Prozent der Befragten waren Mitglied in einer Partei. Allerdings sind Parteimitglieder auch in der Erwachsenenbevölkerung eine ganz kleine Minderheit. Sehr häufig wurde der Wunsch geäußert, dass man in einer Partei auch mitarbeiten können sollte, ohne Mitglied zu sein. Junge Menschen wollen in den Parteien sichtbarer sein und wünschen sich mehr Möglichkeiten für eine themenbezogene Mitarbeit oder auch kurzfristige Mitmachangebote. Da spiegelt sich die Lebenssituation junger Menschen deutlich wieder, die ja tatsächlich ganz viele Dinge in dieser Lebensphase zu bewältigen haben, Qualifikationen erwerben, zum Teil schon Partnerschaftsbindungen, Familiengründung etc. Da stehen so viele Dinge an, da hat Politik natürlich nicht den herausgehobenen Stellenwert und muss integriert werden. Und von daher sind Aktionsformen, die zeitlich nicht so stark beanspruchend sind, einmalige Mitmach-Aktionen oder auch onlinebasierte Aktionen, eben attraktiver für junge Menschen, weil sie sich leichter in den Alltag integriert lassen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass die Jugendlichen mit ihren Themen sichtbar werden möchten. In der Studie wurde deutlich, dass eine Beteiligung für sie dann attraktiver ist, wenn jugendrelevante Themen von politischen Institutionen, Politikern und Politikerinnen aufgegriffen werden.
Dabei ist interessant, auch wenn es nur ein kleines Untersuchungsdetail ist, dass in der Befragung zu verschiedenen Maßnahmen, die Parteien ergreifen könnten, damit junge Menschen dort mehr mitarbeiten, die Einführung von Jugendquoten von jungen Menschen selbst gar nicht so positiv bewertet wurde, während in Parteien solche Jugendquoten ja schon diskutiert worden sind.

TpB: Welche Empfehlungen können Sie aus ihrer Forschung für die Praxis politischer Bildung ableiten?

MG: Es wäre wichtig, dass es in den Kontexten, in denen sich junge Menschen bewegen, zum Beispiel in der Schule oder in Ausbildungsbetrieben, Mitbestimmungsstrukturen gibt, in die sie sich einbringen und positive Erfahrungen machen können, wo sie Demokratiefähigkeit lernen, um das dann auch auf den gesellschaftlichen oder öffentlichen Bereich übertragen zu können.

Und wir denken, dass Mädchen und junge Frauen besonders angesprochen werden müssen. Ihnen sollte aufgezeigt werden, dass es ein Bereich ist, der auch für sie interessant sein kann, dass er etwas mit ihnen selbst und ihren Lebensbereichen zu tun hat, dass ihnen gezeigt wird, dass sie sich einbringen können, dass sie das Gefühl bekommen, dass sie mit ihrem Engagement etwas bewirken können und dass das auch sichtbar wird. Eine unmittelbare Erfahrbarkeit ist wichtig.

Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der Studie „Wie politisch ist die heutige Jugend wirklich?“, [ PDF | 576 KB ]

 

Veröffentlicht: März 2016



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