„Evaluation muss immer auch den allgemeinen Zielen von politischer Bildung gerecht werden.“ Interview mit Raphaela Schlicht-Schmälzle
Dr.in Raphaela Schlicht-Schmälzle war wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt am Main. Sie arbeitete und forschte im Projekt „PrEval – Evaluationsdesigns für Präventionsmaßnahmen“ (März 2020 bis Juni 2022) zu politischer Bildung. Im Interview gibt sie Einblicke in das Projekt, unter anderem zum Verhältnis von Prävention und politischer Bildung.
Dr.in Raphaela Schlicht-Schmälzle war wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt am Main. Sie arbeitete und forschte im Projekt „PrEval – Evaluationsdesigns für Präventionsmaßnahmen“ (März 2020 bis Juni 2022) zu politischer Bildung. Im Interview gibt sie Einblicke in das Projekt, unter anderem zum Verhältnis von Prävention und politischer Bildung. So zeigen die Projektergebnisse, dass, je nach Bildungskonzept und -ansatz der Praxisakteure, politische Bildung und Prävention entweder voneinander abgegrenzt oder zusammengedacht werden.
Fachstelle politische Bildung: Worum geht es im Forschungsprojekt „PrEval – Evaluationsdesigns für Präventionsmaßnahmen“?
Raphaela Schlicht-Schmälzle: PrEval ist ein Verbundprojekt mit verschiedenen Partnern aus der Extremismus- und Präventionsforschung und vor allem auch aus der politischen Bildung. Das Besondere an dem PrEval Ansatz ist, dass der Fokus genau auf der Schnittstelle zwischen politischer Bildung und Präventionsarbeit liegt. Wir arbeiten mit mehreren Praxisträgern zusammen, zum Beispiel mit dem Violence Prevention Network, eine große Organisation, die Präventionsprogramme entwickelt und durchführt oder Ufuq e.V., ein Träger der politischen Kinder- und Jugendbildung und natürlich der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. Wir vom Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) koordinieren das Verbundprojekt, das vom Bundesinnenministerium (BMI) im Rahmen des Nationalen Präventionsprogramms gegen islamistischen Extremismus (NPP) finanziert wird.
Kern des Projekts ist die Stärkung und Erforschung von Evaluation und Qualitätssicherung in der Extremismusprävention. Wichtige Handlungslinien sind dabei, dass Evaluationen in Kooperation mit der Praxis durchgeführt werden und die Expertise der Fachpraxis bereits während der Entwicklung in das Evaluationsdesign einfließt. Es hat sich gezeigt, dass es nicht den einen Standard für eine Evaluation in der Extremismusprävention gibt, sondern dass diese sehr stark vom jeweiligen Feld, der Arbeitsweise, den Handlungslogiken der Praxis und auch von der Zielgruppe abhängt. In einem Projekt im Jugendstrafvollzug können beispielsweise sehr viel weniger Evaluationsmethoden angewendet werden, schon aus datenschutzrechtlichen Gründen, als in anderen Projekten.
In der ersten Projektlaufzeit ging es zunächst um die Erfassung vorhandener Präventionsprogramme, deren Evaluierung und Qualitätssicherung, angewandte Methoden sowie eine Einordnung der Programme im internationalen Vergleich. Wir haben dann mehrere Pilotstudien mit verschiedenen Praxispartnern durchgeführt. Diese waren nach Primärprävention, Sekundärprävention, Tertiärprävention und politische Bildung unterteilt. Mein Arbeitsschwerpunkt lag im Bereich der politischen Bildung. Gemeinsam mit der Fachpraxis haben wir dort, über einen Zeitraum von mehr als eineinhalb Jahren, zunächst Evaluationsdesigns für deren Programme entwickelt und dann testweise Evaluationen durchgeführt.
FpB: Könnte man sagen, dass es in Ihrer Arbeit darum geht, wie Präventionsmaßnahmen überhaupt evaluiert werden können und auch, wo Grenzen sind?
RS-S: Ja, das kann man so sagen. Ein wichtiges Ergebnis ist, dass Evaluation sehr stark vom Gegenstandsbereich abhängt und eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit der Praxis elementar ist, da es unterschiedliche Zielvorstellungen geben kann. Auch Fördermittelgeber haben oft andere Ziele als Fachpraxis und Wissenschaft, weshalb Evaluationen immer alle relevanten Seiten einbeziehen sollten. So muss beispielsweise geklärt werden, was die Ziele der jeweiligen Stakeholder sind, welches die Interessensgegenstände der Evaluation sind, welcher Zeitverlauf machbar ist, was publiziert werden soll und so weiter. Danach wird nach gemeinsamen Nennern geschaut. Auch ein multimethodischer Evaluationsansatz und selbstverständlich die Einhaltung wissenschaftlicher Standards sind wichtig.
FpB: Sie haben politische Bildung angesprochen. Können Sie die Verbindungen zur politischen Bildung im Projekt genauer beschreiben?
RS-S: Die Frage nach dem Zusammenhang von politischer Bildung und Prävention ist zentral und begleitete uns immer wieder im Projekt. Bei politischer Bildung geht es meinem Verständnis nach zunächst darum, Menschen zu befähigen, am gesellschaftlichen und politischen Leben teilhaben zu können. Dazu gehört die Vermittlung von relevantem politischem Wissen und Kompetenzen sowie von Werten, denn kein Staat agiert in einem neutralen Rahmen. Politische Bildung muss in einer Demokratie aber auch offene Räume schaffen, in denen kontroverse Themen diskutiert werden können und sollen. Ihr Ziel ist es erstmal nicht, eine bestimmte Ideologie zu verhindern oder ein politisches Ziel zu erreichen. Schaut man sich jedoch Förderprogramme wie „Demokratie leben!“ an, wird dort Prävention als Ziel politischer Bildung beschrieben. Auch wird davon ausgegangen, dass politisch gebildete Menschen „immunisiert“ oder weniger anfällig für extremistische oder menschenverachtende Tendenzen, Populismus und Desinformation sind. Politischer Bildung wird hier ein präventiver Charakter zugeschrieben und ich denke, man muss anerkennen, dass politische Bildung zu gewissen Teilen auch eine präventive Wirkung hat. Allerdings befindet man sich hier auf einem schmalen Grat: Auf der einen Seite gibt es wahrscheinlich diese präventive Wirkung, auf der anderen Seite darf politische Bildung nicht komplett zu diesem Zweck vereinnahmt werden. Auch die Tabuisierung bestimmter Ideologien ist problematisch, während diese gleichzeitig durch politische Bildung verhindert werden sollen. Im Projekt haben wir immer wieder festgestellt, dass die Fachpraxis damit Probleme hat und das Gefühl, sich für bestimmte Förderlinien „verbiegen“ zu müssen.
FpB: Das klingt nach einer herausfordernden Situation für die politische Bildungspraxis. Was sollte bei Evaluationen deshalb beachtet werden?
RS-S: Teilweise werden sehr hohe Erwartungen an die Praxis gestellt. Ziele von Präventionsprogrammen sind häufig langfristig gedacht. Man kann jedoch nicht erwarten, dass Jugendliche, wenn sie im Alter von 16 Jahren ein paar Wochen an einem politischen Bildungsprogramm teilnehmen, danach ein Leben lang gegen Extremismus immunisiert sind. Die Fachpraxis ist sich dessen wohl bewusst. Werden allerdings nur noch solche, teils unrealistischen, Wirkungen erwartet, werden Evaluation und Qualitätsmanagement für die Praxis zum Problem. Folgen seitens der Fachpraxis sind dann Missverständnisse oder schwindendes Vertrauen in Evaluation. Eines unserer wichtigsten Projekterkenntnisse ist folglich, dass Evaluation immer auch den allgemeinen Zielen von politischer Bildung gerecht werden muss.
Eine weitere Herausforderung sind die neuen Konkurrenzen um Fördergelder zwischen verschiedenen Bildungsanbietern, die durch die Präventionsprogramme entstehen. Es gibt Anbieter, die einen allgemeinen Ansatz politischer Bildung haben und andere, die sehr stark aktivistisch sind oder sich auf einen Phänomenbereich fokussieren. Letztere profitieren aktuell eher von den Förderrichtlinien. Es sollte deshalb ein Weg gefunden werden, zukünftig auch allgemeine bzw. grundlegende Ziele politischer Bildung in Förderprogrammen zu berücksichtigen. An diesen Spannungsfeldern haben wir im PrEval-Projekt auch angesetzt und gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb regelmäßig im Rahmen von Workshops verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Perspektiven auf politische Bildung an einen Tisch gebracht, um diese Spannungen zu diskutieren und zumindest Ansätze für mögliche Lösungen zu diskutieren. Hier ist aber weitere Arbeit nötig, um ein zeitgemäßes und kohärentes, aber auch für die meisten Akteure tragbares, Verständnis von politischer Bildung und dem was sie erreichen soll, zu erarbeiten.
FpB: Sie hatten die Einteilung in Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention nach Caplan erwähnt. Wo ist politische Bildung dort jeweils verortet?
RS-S: Primärprävention richtet sich an alle und zielt darauf ab, keinen Nährboden für Extremismus entstehen zu lassen. Maßnahmen zur Sekundärprävention werden für Risikogruppen angeboten, d.h. für Personen, die eine Tendenz zum Extremismus haben. Bei Tertiärprävention gab es bereits extremistische Vorfälle. Wenn es bei PrEval um politische Bildung ging, dann immer im primärpräventiven Bereich. Auch bei tertiärer Prävention kann es natürlich Ansätze geben, die in der politischen Bildung anerkannt sind. Es gibt keine eindeutige Trennung, dennoch haben diese Angebote ein anderes Ziel. Ein Beispiel, bei dem man annehmen könnte, dass es sich um Sekundär- oder Tertiärprävention handelte, war ein politisches Bildungsprojekt im Jugendstrafvollzug, das von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb gefördert wurde. Hier handelte es sich ja um eine Zielgruppe, die bereits auffällig geworden ist, jedoch nicht unbedingt im Bereich extremistischer Straftaten. Wir haben das dem primärpräventiven Bereich zugeordnet, weil die Pädagog*innen das Projekt nicht mit dem Ziel durchführten, ein bestimmtes Phänomen oder Verhaltensweisen zu verhindern bzw. auf eine extremistische Haltung der Zielgruppe mindernd einzuwirken. Vielmehr wollten Sie in diesem Fall ein politisches Bildungsangebot bereitstellen, das auch der Zielgruppe im Strafvollzug eine Teilhabe am politischen Leben ermöglicht, unabhängig davon, wie die Zielgruppe zuvor straffällig geworden ist.
FpB: Wie und wann wurde politische Bildung von Prävention im PrEval-Projekt abgegrenzt, und wann war eine Abgrenzung vielleicht gar nicht notwendig?
RS-S: Als Wissenschaftler*innen sind wir davon ausgegangen, dass politische Bildung prinzipiell einen primärpräventiven Charakter hat. Bedeutsamer war es für uns jedoch, wie die Fachpraxis dies sieht und handhabt: Was sind ihre Wirkungsziele? Was wollen die Fachkräfte mit ihren Programmen erreichen? Ob das als Primärprävention bezeichnet wurde oder nicht, war für uns zunächst unwichtig. Ich vergleiche das gern mit dem Gesundheitssektor: Eine Ernährungsberatung hat spezifische Ziele, beispielsweise Kenntnisse über gesunde und ausgewogene Ernährung vermitteln zu wollen und dafür zu werben. Die Beratung muss nicht unbedingt explizit die Prävention von Diabetes oder Herzkreislauferkrankungen anstreben, hat jedoch idealerweise auch eine präventive Wirkung auf das Gesundheitsverhalten. Bei PrEval stellte sich heraus, dass der jeweilige Bildungsansatz der Träger eine Rolle dafür spielt, ob Abgrenzungen zwischen politischer Bildung und Prävention gemacht werden. Bildungsträger, die ihre Angebote genuin als politische Bildung verstehen, grenzen sich eher von Prävention ab als Träger, die auf einen bestimmten, mit Extremismus zusammenhängenden Phänomenbereich spezialisiert sind. Letztere möchten mit ihren Angeboten, unter anderem mit politischen Bildungsangeboten, in der Regel präventiv wirken, d.h. etwas verhindern. Allerdings waren die Bildungskonzepte und -ziele fluide und über die Zeit dynamisch und passten sich stark an aktuelle gesellschaftliche Bedarfe an. Einige Vertreter*innen der Fachpraxis teilten uns mit, dass vor etwa zehn Jahren der Fokus sehr stark auf der Prävention von islamistischem Extremismus lag, während dieser sich in den letzten Jahren stärker hin zur Prävention von Islamophobie und Rechtsextremismus verschoben hat. Dabei spielen auch sich ändernde Förderprogrammrichtlinien eine Rolle.
FpB: Geht es bei PrEval um Selbst- oder Fremdevaluationen?
RS-S: Beide Evaluationsarten waren vertreten und wurden thematisiert. Fremdevaluationen werden von der Fachpraxis tendenziell besser bewertet, weil sie ihnen objektiver erscheinen. Außerdem wird ihnen mehr Expertise zugeschrieben, insbesondere hinsichtlich der Methodik. Fremdevaluationen sind jedoch kostenintensiv und darum für viele Bildungsträger nicht erschwinglich. Im Bereich politischer Bildung haben wir bei PrEval nur Fremdevaluationen erarbeitet und durchgeführt. In den anderen Projektbereichen wurden auch Selbstevaluationen designed und der Frage nachgegangen, wie diese in den Organisationen strukturell verankert werden können.
FpB: Ein wichtiger Teil des Projekts ist der Transfer der Erkenntnisse in die Praxis. Wie gestalten Sie diesen Transfer und welche Ziele verbinden Sie damit?
RS-S: Der Transfer unserer Forschungsergebnisse in die Fachpraxis ist nicht das i-Tüpfelchen, sondern zentraler Bestandteil und Ziel des Projekts. Die Pilotstudien mit der Fachpraxis haben den größten Raum im Projekt eingenommen und hatten zum Ziel, dass gemeinsam mit der Fachpraxis wissenschaftliche Ergebnisse erarbeitet werden, die dann direkt in die Evaluationsarbeit der Fachpraxis, aber auch in die Beratung politischer Strukturen einfließen kann. Durch die enge Einbindung der Fachpraxis in die Pilotstudien war die wissenschaftliche Arbeit in den Studien bereits durch Transfer geprägt. Eine Transfersäule ist die Beratung von Politik und Fachpraxis der politischen Bildung und der Präventionsarbeit. Evaluationen benötigen Zeit und Geld, dementsprechend müssen von politischer Seite feste Strukturen aufgebaut werden, damit die Fachpraxis überhaupt in die Lage versetzt wird, Evaluationen nach bestimmten Qualitätsstandards durchführen zu können. Zu diesen Strukturen zählen finanzielle Mittel, die von vornherein für Evaluation breitgestellt werden, aber auch Beratungsstrukturen, zum Beispiel ein Helpdesk, der die Fachpraxis bei der Implementation von Evaluation und Qualitätssicherung unterstützt. Letztlich ist natürlich auch kontinuierliche Forschung im Bereich der Evaluation von politischer Bildung notwendig, die das gewonnene Wissen der Fachpraxis und der Politik zur Verfügung stellt. Wir beraten deshalb die Politik, was für eine solche Strukturförderung benötigt wird. Die zweite Transfersäule betrifft die Fachpraxis. PrEval hat gezeigt, dass wissenschaftsbasierte Evaluation im Präventionsbereich nur durch eine enge Zusammenarbeit mit der Praxis gelingt und nachhaltig wirkt. Der Transfer war beiderseitig: Wissenschaft und Praxis haben sich gegenseitig gespiegelt, was für eine gute Evaluation benötigt wird. Die Erfahrungen und Erkenntnisse werden in einem Handbuch veröffentlicht, das 2023 erscheint.
FpB: Vielen Dank für Ihre Zeit und das Interview!
veröffentlicht am 29.08.2022
Zum Weiterlesen
- Schlicht-Schmälzle, Raphaela / Kroll, Stefan / Theis, Désirée (2021): MEHR ALS PRÄVENTION // Politische Bildung und Extremismusprävention: Schnittmengen und Herausforderungen. PRIF Spotlight 2/2021 [ PDF | 296 KB ]
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