„Es ist wichtig aus der Perspektive des Alltags der Jugendlichen zu denken.“ Interview mit Nadia Kutscher

Prof'.‘in Dr. Nadia Kutscher ist Professorin für Soziale Arbeit und Ethik an der Universität Vechta mit den Arbeits- und Forschungsschwerpunkten Kindheit, Jugend und Internet. Für die Studie „Politische Partizipation Jugendlicher im Web 2.0“ des Deutschen Jugendinstituts und der TU Dortmund hat sie die politische Beteiligung von Jugendlichen untersucht. Im Gespräch mit der Transferstelle politische Bildung berichtet sie über ihre Ergebnisse und deren Auswirkungen auf die politische Bildungsarbeit.


Prof'.‘in Dr. Nadia Kutscher

Prof'.‘in Dr. Nadia Kutscher

Prof'.‘in Dr. Nadia Kutscher ist Professorin für Soziale Arbeit und Ethik an der Universität Vechta mit den Arbeits- und Forschungsschwerpunkten Kindheit, Jugend und Internet. Für die Studie „Politische Partizipation Jugendlicher im Web 2.0“ des Deutschen Jugendinstituts und der TU Dortmund hat sie die politische Beteiligung von Jugendlichen untersucht. Im Gespräch mit der Transferstelle politische Bildung berichtet sie über ihre Ergebnisse und deren Auswirkungen auf die politische Bildungsarbeit.


Transferstelle politische Bildung: Sehr geehrte Frau Kutscher, Sie haben zur politischen Partizipation Jugendlicher im Web 2.0 geforscht. Welche Formen der politischen Partizipation nutzen Jugendliche im Internet?

Nadia Kutscher: Die Frage ist zunächst: Was ist „politische Partizipation“ eigentlich? Ist Partizipation eher eng definiert, im Sinne von parteipolitischem Engagement, oder als die Organisation von Interessen in der Öffentlichkeit oder etwa als Ausdruck einer individuellen Forderung, die von der Politik zu lösen ist? In der Studie für das Deutsche Jugendinstitut haben wir uns für eine weite Definition entschieden, um die Nutzung digitaler Medien unterschiedlicher Zielgruppen bei der politischen Beteiligung zu sondieren.

TpB: Was haben Sie untersucht?

NK: Wir haben in unserer Studie Jugendliche aus Real-, Haupt-, und Förderschulen aus „offenen Türen“, also aus Jugendtreffs, kommunalen Kinder- und Jugendforen, Parteijugendorganisationen, Jugendverbänden und aus neuen sozialen Bewegungen wie Attac befragt. Es ging uns um Alltagspraktiken in der Nutzung digitaler Medien und wie sich die Jugendlichen politisch beteiligen. Dabei hat sich bestätigt, was schon andere Studien feststellten: Persönliche Beziehungen sind die entscheidende Grundlage für die Beteiligung von sozial benachteiligten Zielgruppen. Dabei zeigt sich, dass politische Partizipation zunächst ein Ungleichheitsproblem nach sich zieht, welches auch mit den Nutzungsformen zusammenhängt. Es existiert eine unterschiedliche Nähe zu der im bourdieuschen Sinn „legitimen“ Kultur von Beteiligung oder „legitimen“ Ausdrucksformen von Beteiligung. Viele Studien, aber auch praktische Erfahrungen, deuten darauf hin, dass vor allem die Jugendlichen aus der Mittelschicht erreicht werden.

TpB: Gibt es auch politische Beteiligungsräume für Jugendliche, die sich selbst nicht als politisch aktiv bezeichnen würden?

NK: Unsere Befragung bei benachteiligten Jugendlichen hat gezeigt, dass solche Räume kaum existieren. Beteiligung spielt sich bei ihnen vor allem außerhalb des Internets ab. Beteiligung wird in diesem Zusammenhang oft sehr beziehungsorientiert interpretiert. Die Jugendlichen kümmern sich also um bekannte Menschen aus dem lokalen Nahraum. Das ist wirklich sehr spannend, da es sich nicht um abstrakte Themen oder Ideen handelt, von denen wir zunächst ausgegangen sind.

TpB: Können Soziale Netzwerke nicht diesen Beziehungscharakter annehmen und so das Engagement fördern?

NK: Hier stellt sich die Frage nach der Qualität der Beziehungen in sozialen Netzwerken. Man kann eine Form von „Pseudobeteiligung“ feststellen. Ein Klick oder das Ausfüllen einer Onlineumfrage lässt sich schnell machen, aber bei wirkmächtigerer Organisation von Beteiligung lässt sich feststellen, dass hier die ressourcenreicheren Jugendlichen deutlich stärker vertreten sind.  Dies entspricht Ergebnissen der Beteiligungsforschung außerhalb des Netzes. Offensichtlich reproduziert sich die Offline-Beteiligung innerhalb der Online-Strukturen.

Für eine wirkmächtige Organisation von Interessen kommt es neben medienbezogenen Kompetenzen auch darauf an, Interessen zu organisieren und ein Anliegen zu formulieren, das auch durchsetzungsfähig ist. Allein eine Idee zu haben führt nicht automatisch dazu, dass sie dann auch von einer größeren Anzahl von Leuten mitgetragen wird. Auf kommunaler Ebene lässt sich beobachten, dass sich verschiedene Formen wie etwa der Ausdruck bzw. das Verwenden bestimmter Sprachcodes oder ob Anliegen für gerechtfertigt, durchsetzungswürdig oder unterstützungswert gehalten werden, aber auch ob man in der Lage ist, die etablierten Formen zu bedienen, auf die Beteiligung auswirken. Diese Vorgänge reproduzieren sich ebenfalls im Internet.

TpB:Welche Medienkompetenzen benötigen Jugendliche denn genau, um sich online an politischen Prozessen zu beteiligen?

NK: Dies ist abhängig vom Alltag der Jugendlichen, davon, was für sie und ihre Peers relevant ist und in welchen Kontexten sie ein Anliegen zu Gehör bringen wollen. Bei der Entwicklung dieser Fähigkeiten spielen das Elternhaus  und die Peers eine wichtige Rolle. Wenn die gewählten (nicht nur) medialen Formen auch noch den so genannten „legitimen Formen“ in unserer Gesellschaft entsprechen, dann werden die Durchsetzungsspielräume größer. Wenn Jugendliche einen Lebensalltag haben, in dem ihnen die Ressourcen und die Möglichkeiten für die legitimen Formen nicht zugänglich sind und wo mediale Aktivitäten vor allem eine Entlastungsfunktion besitzen, dann ermöglicht dieser andere Alltagskontext auch keine größeren Erfolge in der Durchsetzung ihrer Interessen.

TpB: Bedeutet dies, dass auch der leichtere technische Zugang zu Onlinediensten, wie z.B. über mobile Endgeräte, keine Veränderung an den  Beteiligungsformen bewirkt?

NK: Verschiedene Medienstudien zeigen klar, dass die Zugangsfrage nicht die Lösung des Problems ist, sondern die Ressourcen und die Anschlussfähigkeit an den eigenen Alltag und der Menschen, mit denen sie zu tun haben, entscheidend ist. Mit Bourdieu gesagt: das kulturelle, soziale und ökonomische Kapital.

TpB: Hätten Sie eine Empfehlung für die politische Bildung, wie sie speziell die politische Partizipation von bisher inaktiven Jugendlichen fördern kann?

NK: Es ist wichtig aus der Perspektive des Alltags der Jugendlichen zu denken, nicht etwa aus der Vermittlungsperspektive. So werden sich möglicherweise Themen auftun, die nur wenig mit politischer Bildung zu tun zu haben scheinen. Es geht aber zunächst darum, den Jugendlichen zu ermöglichen erste grundlegende Erfahrungen zu ihren Themen zu machen. Es wird eine Herausforderung bleiben, die etablierten Formen zu vermitteln, denn die Jugendlichen müssen etwas lernen, dass aus ihrem Alltag heraus nicht unbedingt selbstverständlich ist. Es muss also zunächst an ihren Alltagspräferenzen angesetzt und aufgezeigt werden, dass sie sich in neuen Zusammenhängen bewegen und dort auch etwas verändern können. Anschließend könnte man Anknüpfungspunkte zur politischen Bildung schaffen. Der entscheidende Punkt wird aber die subjektive Betroffenheit bleiben, also die Erfahrung, dass Dinge, die sehr weit weg scheinen, Jugendliche auch ganz persönlich betreffen können. Vorerfahrungen müssen hier erst einmal durchbrochen werden, um aufzuzeigen, dass auch die Anliegen der Jugendlichen gehört werden, auch wenn unsere Gesellschaft bestimmte Hierarchisierungen dafür hat, was als legitim und anerkennenswert gilt. Diese Benachteiligung werden wir nicht einfach durch digitale Partizipationsformen überwinden, sondern dahinter liegen bestimmte Voraussetzungen und Inhalte, die sich auch mit den neuen Medien nicht einfach ändern. Neue Medien könnten allerdings eine gewisse Sensibilisierung schaffen, als eine Form, wie das persönliche Anliegen Gehör bekommt. Ich glaube allerdings, dass die Jugendlichen hierbei begleitet werden müssen.

TpB: Der Einsatz von Medien bzw. die Mediennutzung ist also eher ein Vehikel, um die eigentlich relevanten Themen zu bearbeiten?

NK: Genau. Aus Stefan Wellings Studie über die Mediennutzung von Hauptschülern und Hauptschülerinnen lassen sich dahingehend Hinweise aus einem situativ orientierten Medien-Arbeitsmodell entnehmen. Es wird also zunächst an relevanten Themen aus dem Alltag gearbeitet und dann geschaut, wie Medien in diesem Bezug hilfreich sein könnten. Die Medien selbst verändern die Problemstellung allerdings nicht.

 

Veröffentlicht: Januar 2016



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