„Die kann ich nicht ab!“ Ablehnung, Diskriminierung und Gewalt in der Post-Migrationsgesellschaft. Interview mit Kai Nolde
In der 2016 erschienenen Studie „’Die kann ich nicht ab!‘ – Ablehnung, Diskriminierung und Gewalt bei Jugendlichen in der Post-Migrationsgesellschaft“ untersuchten die Forscher_innen Kurt Möller, Janne Grote, Kai Nolde und Nils Schuhmacher, wie Jugendliche mit und ohne Migrationsbiografien sich zu Themen wie Rassismus, Heterosexismus, Antisemitismus und anderen Ausgrenzungsmechanismen positionieren. Mariam Puvogel von ufuq.de hat die Studie gelesen und mit dem Soziologen Kai Nolde über die Ergebnisse gesprochen. Nolde ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hochschule Esslingen und arbeitet im Projekt „Land in Sicht!“ zu Pauschalisierenden Ablehnungskonstruktionen (PAKO).
In der 2016 erschienenen Studie „’Die kann ich nicht ab!‘ – Ablehnung, Diskriminierung und Gewalt bei Jugendlichen in der Post-Migrationsgesellschaft“ untersuchten die Forscher_innen Kurt Möller, Janne Grote, Kai Nolde und Nils Schuhmacher, wie Jugendliche mit und ohne Migrationsbiografien sich zu Themen wie Rassismus, Heterosexismus, Antisemitismus und anderen Ausgrenzungsmechanismen positionieren. Mariam Puvogel von ufuq.de hat die Studie gelesen und mit dem Soziologen Kai Nolde über die Ergebnisse gesprochen. Nolde ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hochschule Esslingen und arbeitet im Projekt „Land in Sicht!“ zu Pauschalisierenden Ablehnungskonstruktionen (PAKO).
Mariam Puvogel / Ufuq: Kai, bitte erkläre kurz, was ihr in der Studie genau untersucht habt und wie ihr dabei vorgegangen seid.
Kai Nolde: Das Buch präsentiert die Ergebnisse einer Studie, die von 2009 bis 2014 an der Hochschule Esslingen durchgeführt wurde. Grundlage waren leitfadengestützte Interviews mit insgesamt 43 Jugendlichen im Alter von 12 bis 18 Jahren, die jeweils zweimal im Abstand von ein bis anderthalb Jahren zu ihren Alltags- und Konflikterfahrungen sowie zu ihren Sichtweisen auf sich und andere befragt wurden.
Auf dieser Grundlage war es uns zum einen möglich, zentrale Formen, Themen und Muster von unter Jugendlichen verbreiteten Ablehnungshaltungen zu identifizieren. Wir haben ihre Begründungs- und Entstehungszusammenhänge ausgeleuchtet und sie auf ihre Wechselwirkungen hin untersucht. Sortiert nach Themenfeldern handelt es sich dabei um herkunfts- und migrationsbezogene Ablehnungshaltungen, antimuslimische Haltungen, antisemitische Haltungen, Ablehnungshaltungen im Kontext der hegemonialen Geschlechterordnung, Ablehnungen mit Leistungs- und Statusbezug (wir sprechen von gesellschaftlichem ‚underperforming‘) sowie stilbezogene und territorialisierende Ablehnungshaltungen.
Die qualitativ-längsschnittliche Rekonstruktion dieser Haltungen hat es zum anderen erlaubt, sie in ihren Wandlungen zu erfassen und im biographischen Prozess zu verorten – von Aufbau und Festigung bis hin zu Infragestellungen und Distanzierungen. Nicht zuletzt konnten wir so auch Ansatzpunkte für die Jugendarbeit aufzeigen, um Ablehnung, Diskriminierung und Gewalt entgegenzuwirken.
MP: Ihr habt dabei einen neuen Ansatz verwendet, der einen anderen Fokus setzt als die klassische Forschung im Bereich der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF). Welche Gründe gibt es für die inhaltliche Weiterentwicklung, die ihr mit dem Modell der Pauschalisierenden Ablehnungskonstruktionen (PAKO) vorgenommen habt, und wo siehst du die zentralen Schwächen der GMF-Forschung, gerade auch für den Bereich der Jugendforschung?
KN: Das PAKO-Konzept ist ein Resultat unserer Forschung, das am Anfang so noch nicht feststand. Unser Ausgangspunkt war zunächst der GMF-Ansatz. Zugleich sahen wir das Problem, dass hier bis dahin nahezu ausschließlich mit quantitativen Erhebungen gearbeitet wurde. Relevante qualitative Befunde zumal in Bezug auf Jugendliche existierten hingegen fast nicht.
Gerade mit Blick auf den Jugendbereich ist es aber inhaltlich wie methodisch fraglich, Personen anhand standardisierter Fragen auf bestimmte Einstellungen festzunageln. Solche Momentaufnahmen bergen etwa die Gefahr, in ihrer Haltung noch wenig gefestigte junge Menschen als „Menschenfeinde“ zu etikettieren. Demgegenüber wollten wir differenzieren, die Hintergründe aufklären und jugendtypische Beweglichkeiten von Haltungen ins Blickfeld rücken. Wir sind also fragend an die Sache herangegangen, um die Erklärungs- und Erweiterungspotenziale des GMF-Ansatzes auszuloten. Ausgehend vom empirischen Material haben wir dann konzeptionelle Weiterentwicklungen vorgenommen.
Zunächst einmal soll der Begriff „Pauschalisierende Ablehnungskonstruktionen“ kenntlich machen, dass abgelehnte „Gruppen“ nicht als etwas der Ablehnung Vorgängiges existieren, sondern im Zuge ihrer Ablehnung überhaupt erst als solche hervorgebracht werden. Sie werden gruppiert zu dieser oder jener vermeintlich eindeutig umrissenen sozialen Entität, die sich durch diese oder jene negativen Charakteristika, Eigenschaften oder Verhaltensweisen auszeichnen soll. Wenn diese negativen Pauschalisierungen entscheidend sind, zeigt sich im Übrigen auch, dass nicht nur „Gruppen“ bzw. Gruppierungen dergestalt von Ablehnung betroffen sind, sondern oftmals auch Religionen, Weltanschauungen, Lebensstile und -praxen. Jedenfalls muss Forschung, wenn sie ihrem Gegenstand gerecht werden will, diese Konstruktionsleistungen in ihrer sozialen Prozesshaftigkeit dechiffrieren. Zumal wenn sie nicht zu einer anhaltenden Schwächung der von Ablehnung Betroffenen beitragen will.
Eine weitere wichtige Erweiterung gegenüber dem klassischen GMF-Ansatz besteht darin, Ablehnungen als Haltungen zu untersuchen, also als eine Kombination aus unterschiedlich konturierten Orientierungen und darauf bezogenen Aktivitäten bzw. Aktivitätsbereitschaften. Indem wir die subjektiven Begründungszusammenhänge und Erfahrungshintergründe ausleuchten, konnten wir so darüber aufklären, welche Grade von Gewaltakzeptanz jeweils vorliegen. Und zwar nicht nur auf der Verlautbarungsebene, sondern auch auf der Ebene des Handelns – etwa in Form diskriminierenden Sprachgebrauchs bis hin zu physischer Gewaltanwendung. Ebenso ließ sich so genauer bestimmen, ob eine ablehnende Haltung sich eher emotional oder kognitiv grundiert und auf welchem Niveau sie angesiedelt ist. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob Jugendliche eher nach Distinktion oder Distanz streben, sich auf der Grundlage von Ressentiments aversiv positionieren, habitualisierten Selbstinszenierungen folgen oder sich in ideologischen Vorstellungswelten von relativer Geschlossenheit bewegen, aus denen heraus sie sich in einer Gegnerschaft zum Ablehnungsobjekt sehen.
Wie unsere Untersuchung gezeigt hat, ist Letzteres übrigens nur äußerst selten der Fall. Tatsächlich fällt das Niveau der Ablehnungshaltungen insgesamt wie auch innerhalb einzelner Facetten äußerst unterschiedlich aus. Ihre Ausgangspunkte, Begründungszusammenhänge und Kombinationen variieren erheblich, ihre Mobilisierung ist stark kontextabhängig und folgt in hohem Maße situativen Dynamiken. Insofern ist letztlich auch die allzu schematische Vorstellung eines kohärenten Syndroms Gruppenbezogener Feindlichkeit, dessen Kern eine Ideologie der Ungleichwertigkeit sein soll, nicht haltbar. Weder ist es adäquat, das Zusammenspiel von Ablehnungshaltungen (mit pathologisierender Assoziationskraft) als syndromatisch zu bezeichnen, noch ordnen sie sich um ein „ideologisches Zentrum“ herum an. Wie wir gezeigt haben, sind es vielmehr vielschichtige Repräsentationen von Ungleichheit, die die Ablehnungshaltungen fundieren und das verbindende Element zwischen ihnen darstellen können. Können deshalb, weil wir es im Ergebnis mit ganz unterschiedlichen Konstellationen pauschalisierender Ablehnungskonstruktionen zu tun haben. Mit Konstellationen, innerhalb derer sich bestimmte Ablehnungen mitunter verstärken, genauso gut aber auch unvermittelt nebeneinander stehen oder sich, rein logisch betrachtet, gegenseitig sogar ausschließen.
MP: Ihr habt eure Studie ja bewusst in der ‚(Post-)Migrationsgesellschaft‘ verortet. Was bedeutet dieser Begriff für dich und wie siehst du ihn im Gegensatz zum „Mitte-Begriff“ der GMF*-Forschung?
KN: Ich sehe hier keinen Gegensatz. Beide Begriffe stellen etablierte Zustandsbeschreibungen von Gesellschaft in Frage und nehmen hier eine Neubestimmung vor. Sie intervenieren und berühren sich dabei thematisch. Gleichwohl setzen sie ihren Akzent auf jeweils eigene Gesichtspunkte, operieren auf unterschiedlichen Ebenen und unterscheiden sich daher auch in ihrer Qualität und Reichweite.
Der zentrale Einsatz des Mitte-Begriffs besteht darin, Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit als ein gesellschaftliches Querschnittsphänomen zu fassen, das auch im etablierten Spektrum virulent ist. Auf breiter empirischer Basis macht er deutlich, dass eine alleinige Randgruppenfokussierung nicht ausreicht und lenkt den Blick auf die innere Verfasstheit von Gesellschaft. Damit definiert er die Herausforderung neu und verweist darauf, dass es entsprechend auch neuer Antworten bedarf, die der Breite der Verankerungen gerecht werden.
Zugleich bleibt der Mitte-Begriff in hohem Maße diffus. Wer oder was ist diese Mitte? Wie bestimmt sie sich? Gefühls- oder evidenzbasiert – und dann: politisch, ökonomisch oder sozial? Und was bleibt von ihr übrig, wenn mittlerweile mancherorts bis zu 30% die AfD wählen? Nicht umsonst hat der Soziologe Stephan Lessenich sie als „das unbekannte Wesen“ bezeichnet, als eine eher mythische Figur, die an gesellschaftlicher Substanz verloren hat und dennoch – oder gerade deswegen – immer dann angerufen wird, wenn es darum geht, einen Umgang mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen zu finden. Insofern bleibt der Begriff wohl darauf zurückgeworfen, einen richtigen und wichtigen Impuls gesetzt zu haben. Für eine weitergehende Aufklärung der Zusammenhänge müssten dann aber doch noch mal andere Register gezogen werden.
Dabei gehen wir mit diesem Impuls durchaus konform. Denn auch wir verorten Ablehnung „in der Mitte der Gesellschaft“ und können zudem einige relevante soziale Prozesse und Bedingungsfaktoren rekonstruieren. Allerdings eben in einem qualitativen Verfahren, dass aus sich selbst heraus keine vergleichbare Großdiagnostik erlaubt.
Mit „(Post-)Migrationsgesellschaft“ wiederum setzen wir das Boot an einer anderen Stelle ins Wasser. Wir haben den Begriff nicht erfunden, sondern bereits laufende Debatten aufgegriffen und sie in unserer Untersuchung geerdet. Es geht um die Anerkennung des Umstands, dass wir inzwischen in einer Gesellschaft leben, die spezifisch postmigrantisch geprägt ist. Nicht nur ist Migration längst angekommen, sondern auch die innergesellschaftlichen sozialen Konstellationen haben begonnen, die Unterscheidung von autochthon und allochthon brüchig und letztlich oftmals haltlos werden zu lassen.
So zeigen unsere Interviews in einer Vielzahl von Varianten, wie sich junge Menschen einer vereindeutigenden Festlegung auf einen sogenannten Migrationshintergrund entziehen und stattdessen mit temporären, funktionalen und hybriden Bezügen auf die ihnen zur Verfügung stehenden Migrationsnarrative hantieren. Sei es auf der Ebene der Selbstbeschreibung, in alltäglichen Interaktionen oder wenn sie sich eben ablehnend gegenüber anderen positionieren. Postmigrantisch also deshalb, um von unzulässigen Etikettierung wegzukommen und den flüssigen Aggregatzustand dieser Gesellschaft abzubilden.
MP: Im Anschluss an die vorhergehende Frage würde ich gerne auf die sozialen Kontexte schauen, in denen Jugendliche pauschalisierende Ablehnungshaltungen wie Rassismus oder Sexismus entwickeln. Ihr bezieht euch hier auf das sogenannte „KISSeS-Modell“ als Analyserahmen. Kannst du kurz erklären, worum es bei diesem Ansatz geht?
KN: Der Ansatz beruht auf der Annahme, dass bestimmte Erfahrungen die Entstehung und Entwicklung von pauschalisierenden Ablehnungskonstruktionen begünstigen. Er zielt auf ein sozialisationstheoretisches Verständnis dieser Prozesse ab. Es geht darum zu rekonstruieren, was Jugendliche in unterschiedlichen Bereichen wie Schule, Familie oder Freundeskreis erleben, wie sie das Erlebte verarbeiten und welche Deutungsperspektiven auf sich und andere ihnen dabei plausibel erscheinen und Attraktivität entfalten. Kurz: wie also die Hinwendung zu bestimmten Ablehnungen biographisch und sozial grundiert ist und welche Faktoren dann auch wieder ausschlaggebend sind, um Distanzierungen zu befördern.
Das KISSeS-Modell dient uns als Verstehensansatz und Analyseraster. Die ersten vier Buchstaben des Akronyms stehen für Kontrolle, Integration, Sinnlichkeit und Sinn als zentrale Ebenen, auf denen Lebensgestaltungserfahrungen im Positiven wie im Negativen gemacht werden. Das kleine „e“ steht für erfahrungsstrukturierende Repräsentationen. Damit sind diejenigen Bilder, Codes, Symbole, Metaphern etc. gemeint, die im individuellen und kollektiven Erfahrungsspeicher vorhanden sind und im Zuge von Erfahrungsbilanzierungen abgerufen und aktualisiert werden. Hier kommen dann auch die bereits erwähnten Repräsentationen von Ungleichheit oder gar Ungleichwertigkeit ins Spiel und können gegen Abgelehnte in Stellung gebracht werden. Das letzte „S“ thematisiert das jeweilige Entwicklungsniveau der Sozial- und Selbstkompetenzen. Ihm kommt eine moderierende Funktion zu und hat Einfluss darauf, ob und inwieweit bei der Erfahrungsausdeutung ein Rückgriff auf pauschalisierende Negativzuschreibungen erfolgt, diese bedeutungslos bleiben oder eher kritisch hinterfragt werden.
Diese Perspektivsetzung impliziert zugleich eine Lösung: Wenn es gerade Erfahrungen und deren Verarbeitung sind, die zur Einnahme ablehnender Haltungen führen, dann können durch die Vermittlung neuer Erfahrungen auch funktionale Äquivalente zu bisherigen ablehnenden Deutungen nahegebracht werden.
Insgesamt haben wir damit einen Ansatz, der die Dynamiken des Auf- und Abbaus ablehnender Haltungen erfassen kann und der auch über den Bereich der Jugendarbeit hinaus anschlussfähig ist für vor allem pädagogisches Handeln. Potenzial sehen wir außerdem hinsichtlich seiner Übertragbarkeit auf andere gesellschaftliche Bereiche und Handlungsfeldern. Eine Stärke des KISSeS-Konzepts besteht hier wie dort zudem darin, normative und individualisierende Deutungs- und Berarbeitungsansätze zu überschreiten. Ausgemachte Problemträger werden weder dämonisiert noch auf eine Ansammlung von Defiziten reduziert. Stattdessen werden ihre Erfahrungsräume ausgeleuchtet und auf den sozialen Kontext bezogen, was immer auch einen gesellschaftskritischen Blick auf Verhältnisse beinhaltet.
In diesem Sinne ist zugleich wichtig, KISSeS weiterhin als ein entwicklungsoffenes Modell zu denken, dessen Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft sind. Noch nicht sein können. Denn erst im Praxistest kann und wird sich immer wieder zeigen müssen, wie sich die Transferpotenziale des Ansatzes konkret ausgestalten. Vor anhaltende, empirische wie auch theoretische Herausforderungen stellen etwa die zum Teil recht großformatigen Begriffe, wie zum Beispiel Kontrolle oder Integration: In welcher Reichweite sind sie jeweils zu fassen? Und bergen sie nicht die Gefahr, Teile des Problems auszublenden und wieder ins Normative zurückzukippen, wenn sie auf das bezogen werden, was zu einem Zeitpunkt gerade als gesellschaftliche Normalität gilt? Ich persönlich jedenfalls würde denken, dass es in dieser Hinsicht angezeigt wäre, stärker noch zu berücksichtigen, wie sich Macht- und Ungleichheitsverhältnisse in die Lebensgestaltungserfahrungen der Subjekte einschreiben, ihre Subjektivität prägen und entsprechend auch ihre ablehnenden Haltungen moderieren.
MP: Bei der Auswahl eures Samples, also der Selektion der befragten Jugendlichen, sind die meisten der 43 Interviewten über Kontakte zu Mitarbeiter_innen der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII zu Stande gekommen. Leistungen aus dem SGB VIII erhalten aber nur in seltensten Fällen Jugendliche, die aus sozial privilegierten Familien kommen. Gibt es dadurch nicht eine Unter-Repräsentation von weißen-deutschen Jugendlichen aus höheren Einkommensschichten Schichten und somit eine Vernachlässigung der Ablehnungskonstruktionen Jugendlicher ohne Migrationsgeschichte aus bürgerlichen Milieus?
KN: Generell ist dazu zunächst anzumerken, dass Feldzugänge immer schwierig sind, wenn man nicht klar konturierte Gruppen beforscht. Wir haben daher ein experimentelles Vorgehen gewählt, bei dem es naheliegend war, über ‚Gate Keeper‘ zu operieren. Unsere Samplingstrategie bestand darin, soziale und pädagogische Fachkräfte nach Jugendlichen zu fragen, bei denen sie einschlägige Ablehnungshaltungen in mindestens einer Dimension beobachten.
In den Interviews hat sich dann aber oft nicht abgebildet, was die Fachkräfte zuvor eingeschätzt hatten. Zum einen kam es vor, dass die Perspektive der Fachkräfte erheblich von den Selbsteinschätzungen und Positionierungen der Jugendlichen abwichen. Zum anderen spielte aber auch ihr Eigensinn eine Rolle. Mitunter war deutlich erkennbar, dass die Jugendlichen kein Interesse daran hatten, ihre Erfahrungen und Haltungen in der Interviewsituation mitzuteilen. In anderen Fällen antworteten sie offenkundig taktisch im Sinne sozialer Erwünschtheit oder orientiert an dem, was sie meinten, was wir hören wollten.
Unter anderem dadurch hatten wir eine extrem hohe „Mortalitätsrate“ bei unseren Daten zu verzeichnen. Letztlich fanden 47 Fälle überhaupt keinen Eingang in das Sample und es mussten immer wieder neue Proband_innen gewonnen werden, um die Studie in der veranschlagten Größenordnung zu halten. Dabei wurde ebenfalls nachgesteuert, um eine möglichst breite Variation an Hintergründen zu erreichen. So sind wir etwa über Lehrpersonen oder Sportvereine und durch die Nutzung privater Kontakte gezielt auch an Jugendliche herangetreten, die sich nicht in SGB VIII-Kontexten bewegen.
Klar ließe sich nun rein quantitativ betrachtet dennoch sagen, Jugendlich aus privilegierten Familien seien unterrepräsentiert geblieben. Aber eigentlich ist die Frage die falsche. Den Anspruch auf einen repräsentativen Querschnitt hatten wir nicht und konnten ihn auch gar nicht haben. Er ist in qualitativer Forschung schlicht nicht möglich. Was es hingegen geben kann, ist konzeptionelle Repräsentativität und diese haben wir in einer Reihe von Kriterien auch realisiert. So waren Jugendliche vertreten, die aus verschiedenen und verschieden großen Sozialräumen in Ost- und Westdeutschland kamen und sich zu etwa gleichen Anteilen männlich und weiblich verorteten. Es gab solche ohne sogenannten Migrationshintergrund, aber auch eine Vielzahl familiärer Migrationsbiographien, die sich bei den Interviewten in über 20 verschiedenen natio-ethno-kulturellen Selbstbeschreibungen ausdrückten. Ebenso ordneten sich die Jugendlichen unterschiedlichen Religionen in verschiedenen Ausprägungen (oder auch keiner) zu und beschrieben sich als unterschiedlich religiös (oder eben auch nicht). Und selbst wenn Haupt- und Realschüler_innen einen stärken Anteil hatten, waren im Sample letztlich alle Schulformen vertreten.
Sicherlich ließen sich nun einige der Jugendlichen mit besonders ‚krassen‘ Ablehnungshaltungen hervorheben, um sie unter Verweis auf ihren prekären ökonomischen oder rechtlichen Status als ein Produkt gesellschaftlicher Desintegration und Deprivation abzustempeln. Aber dies wäre unredlich und entspräche auch nicht unserer Betrachtungsperspektive. Ich denke, wir können selbstbewusst sagen, dass wir es unterm Strich nicht mit irgendwelchen ‚GMF-Monstern aus der Unterschicht‘, sondern mit ganz typischen Jugendlichen und ihren Erfahrungen zu tun hatten. Unsere Befunde geben einen ausschnitthaften Einblick in die normalisierte Realität pauschalisierender Ablehnungskonstruktionen. So sind sie einzuordnen und hier entfalten sie ihre Relevanz.
MP: Eine der untersuchten Haltungen eurer Studie beschäftigt sich mit Antisemitismus. Dabei fällt auf, dass Israel-kritische Positionen von euch grundsätzliche als Legitimationsgrundlage für Antisemitismus erfasst werden. Im deutschen Kontext macht dies sicher Sinn, jedoch stellt sich bei einer Untersuchung von Einstellungsmustern in der post-migrantischen Gesellschaft die Frage, inwieweit mit einer solchen Perspektive (vermittelt) biographische Bezüge zum Thema Israel/ Palästina ausgeblendet werden. Denn gerade bei Jugendlichen mit libanesischem oder palästinensischen Hintergrund sind ablehnende Haltungen gegenüber Israel teils im Kontext der Kriege im Libanon zu lesen oder hängen mit dem Trauma der Eltern, den Erzählungen von Vertreibung oder dem Verlust von Verwandten und Bekannten zusammen. Genauso können sie aber auch kommend von kurdisch-deutschen Jugendlichen Ausdruck einer Solidarität zwischen Minderheiten sein, die eine Geschichte von Marginalisierung teilen.
Wie werdet ihr diesen diversen Bezügen und Positionierungen gerecht, die eben auch Teil der sozialen Realitäten einer post-migrantischen Gesellschaft sind, wenn Israelkritik hier ausschließlich als Legitimationsgrundlage für schon vorhandene antisemitische Haltungen untersucht wird?
KN: Das halte ich zunächst einmal für ein Missverständnis oder eine Fehlinterpretation. Wir haben nicht gesagt, dass jede, auch parteiliche Positionierung zu Konflikten in Nahost automatisch Grundlage von Antisemitismus ist. Eher ist von einem potenziellen Anschlusspunkt zu sprechen, der bei denjenigen Jugendlichen wirksam wird, die mit spezifischen Deutungen der Konflikte hantieren.
In diesem Sinne haben wir nicht jede israelkritische Äußerung pauschal als antisemitisch erfasst und uns stattdessen bemüht, Ebenen und Bezugnahmen differenziert darzustellen und in ihre Hintergründe einzuordnen. Im Fokus standen diejenigen Haltungen, die mit und neben einer Problematisierung der Lage in Nahost auf pauschalisierende natio-ethno-kulturelle oder religiöse Deutungsmuster zurückgreifen und dabei auch auf antisemitische Narrative rekurrieren. Letzteres ließ sich in unterschiedlichen Formen und Qualitäten beobachten. Neben verschwörungstheoretischen Anleihen sind uns vor allem immer wieder NS-vergleichende Perspektivsetzungen begegnet sowie Gleichsetzungen von Israel bzw. Israelis und ‚den Juden‘ im Allgemeinen.
Dabei haben wir auch auf vorhandene Brüche, Uneindeutigkeiten und Ambivalenzen hingewiesen. Beispielsweise wenn Haltungen bestimmter Jugendlicher zwischen pauschalisierender Gleichsetzung und Differenzierungsversuchen oszillieren. Und klar ist mitzudenken, dass eine filigrane Unterscheidung zwischen Israelis und Juden von Jugendlichen nicht umstandslos zu erwarten ist und sie möglicherweise überfordert.
Aber nichtsdestotrotz müssen wir das Gesagte ernst nehmen. Denn nicht zuletzt bilden sich darin Einspeisungen aus relevanten Diskursräumen und Eigengruppenbezüge ab und es erzählt uns etwas über deren Bedeutung und Verfasstheit. Und hier zeigt sich eben, dass die Jugendlichen einen Teil ihres antisemitisch konnotierten, mitunter offen antisemitischen Deutungsrahmens aus dem familiären Raum (wie auch aus Medien sowie aus community- und peer-Kontexten) beziehen.
MP: Auffällig beim Thema Antisemitismus ist, die Studie feststellt, dass anders als bei weißen Jugendlichen aus dem rechten politischen Spektrum, bei der Gruppe der muslimisch-migrantischen Jugendlichen, die durch antisemitische Haltungen auffällt, diese nicht Teil eines Musters sind, in dem auch Obdachlose oder andere marginalisierte Gruppen abgewertet werden. Im Gegenteil, dieselben Jugendlichen zeichnen sich hier oft durch ein starkes Gerechtigkeitsstreben aus. Wie erklärst du dir das im Kontext eurer Untersuchung?
KN: Ja, dieser Kontrast ist auffällig. Bei den analytisch als rechtsextrem zu bezeichnenden Jugendlichen zeigt sich der aus anderen Forschungen bereits bekannte Befund, dass der Antisemitismus tendenziell in ein Weltbild relativer Geschlossenheit eingebettet ist und zur politischen Programmatik gehört. Er erweist sich als immer auch rassistisch grundiert und ist gekoppelt mit der Ablehnung von Minderheiten und Schwachen.
Bei Jugendlichen aus muslimischen Sozialisationskontexten haben wir demgegenüber ein viel fragmentierteres und gebrochenes Muster. Vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts als zentraler Betrachtungs- und Deutungsfolie verschränken sich territoriale, familiäre und in letzter Instanz auch religionsbezogene Aspekte und stellen immer wieder auch Bezüge zur Annahme einer globalen Benachteiligung von Muslim_innen her.
Letzteres korreliert in der Regel mit eigenen Benachteiligungs- und Diskriminierungserfahrungen im Alltag und mündet in entsprechenden Narrativen: „Wir Ausländer“ bzw. „Wir Muslime werden nicht gerecht behandelt.“ Dies verleiht der auch im Kontext von Antisemitismus relevanten Konstruktion einer Eigengruppe eine zweite Fundierung. Die Wahrnehmung globaler Ungerechtigkeit kann sich von konkreter Seite bestätigt sehen und bringt eine Gerechtigkeitsorientierung in sozialer und ethnischer Perspektive hervor, in der Antidiskriminierungsanspruch und pauschalisierende Ablehnung miteinander verwoben sind bzw. ihr Verhältnis kontextabhängig unterschiedlich aufgelöst wird. Während aber mit Rassismus eher ein Zustand oder eine bestimmte Haltung als Problem bestimmt wird, das innerhalb einer Gesellschaft lokalisiert ist, zu der Zugehörigkeit reklamiert wird, wird auf der anderen Seite eine abstrakte Gruppierung als Ganzes in Haftung genommen. Zu beobachten ist an diesem Punkt ein Kippen in vereinfachende Deutungsmuster, die pauschalisierend einen wenig greifbaren Schuldigen präsentieren. Dieser Unterschied hat erkennbar damit zu tun, welche Funktion die jeweilige Haltung für die Jugendlichen besitzt.
MP: Der Teil eurer Untersuchung, in dem ihr ablehnende Haltungen gegenüber ‚Deutschen‘ untersucht, ist gerade im Kontext der aktuellen Debatte über Rassismus interessant. Denn Erfahrungen mit Rassismus werden von fast allen Jugendlichen mit Migrationsgeschichte sehr deutlich hervorgehoben. Interessanterweise werden diese jedoch fast nie auf die Gesamtgruppe der Deutschen ohne Migrationshintergrund übertragen, was im Gegensatz zu Haltungen von weißen-deutschen Jugendlichen steht, die ihre Ablehnung gegenüber bestimmten migrantischen Gruppen mit Negativ-Erfahrungen begründen, die sie mit einzelnen aus der jeweiligen Gruppe machten. Wie erklärst du dir diesen Unterschied in der Übertragung von Erfahrungen?
KN: Ich denke, dabei spielen zwei Faktoren oder Bündel von Faktoren eine wichtige Rolle. Zum einen kann festgestellt werden, dass von der Tendenz her die einzigen sich in ihrer Zusammensetzung und vom Selbstbild her als natio-ethno-kulturell geschlossen oder weitgehend homogen präsentierenden Jugendgruppen unter den herkunftsdeutschen und Aussiedler-Jugendlichen zu finden sind. Auch die natio-ethno-kulturellen Selbstbeschreibungen der einzelnen Jugendlichen selbst fallen hier weitgehend eindeutig aus. Diese Verfasstheit und Eigenwahrnehmung bedingen die Wahrnehmung und ggf. Ablehnung migrantischer Gruppierungen. Fremd- und Selbstbeschreibungen sind in einem Konstruktionsprozess miteinander verwoben, auf der einen Seite ein eindeutiges, positives ‚Wir‘, auf der anderen Seite die vermeintlich ebenso eindeutige natio-ethno-kulturelle Fremdgruppierung mit all ihren schlechten Eigenschaften. Dabei ist u.a. auch zu beobachten, wie bezogen auf Letztgenannte Vereindeutigungen vorgenommen werden, wenn es im Alltag, im Sozialraum des Stadtteils, an der Schule oder im Jugendclub zu Konflikten kommt. Es interessiert dann gar nicht mehr, was für Hintergründe die Kontrahenten mitbringen und wie sie sich ggf. als Gruppe tatsächlich zusammensetzen, sondern sie werden pauschal einer natio-ethno-kulturell geanderten Gruppierung zugeordnet.
Die omnipräsente Figur ist dabei der großspurig und übergriffig auftretende Jungtürke, dessen Muskelshirt zugleich seine archaische Männlichkeit und seine Unterschichtszugehörigkeit bebildert. Eine ähnliche Sichtweise findet sich mit teils anderen Nuancierungen auch aus deutscher Perspektive gegenüber ‚Russen‘. Plastisch tritt jedenfalls hervor, wie solche Beschreibungen als Bestätigung und Begründung von Ablehnung zugleich dienen und ebenso den eigenen Standpunkt aufwerten können. Signifikant ist außerdem, wie in diesen Ablehnungskonstruktionen unterschiedliche Repräsentationen von Ungleichheit zusammenwirken, sich gegenseitig stützen und verstärken: Herkunfts- und migrationsbezogene Marker treffen auf gender-Aspekte, diese werden mit Leistungs- und statusbezogenen Zuschreibungen verbunden.
Demgegenüber stehen migrantisch geprägte Freundeskreise und Jugendgruppen, die in ihrer natio-ethno-kulturellen Zusammensetzung oftmals äußert heterogen sind und deren Angehörige, wie bereits erwähnt, häufig selbst hybride Bezüge herstellen und sich kontext- und situationsabhängig flexibel positionieren. Hier greifen ablehnende Entgegensetzungen zu anderen natio-ethno-kulturellen Gruppierungen schlicht nicht in vergleichbarer Weise.
Zum anderen kommt hier auch die im Zusammenhang mit Antisemitismus bereits angesprochene Frage der Funktionalität von Ablehnungshaltungen ins Spiel. So macht es für Jugendliche mit familiärer Migrationsbiographie oftmals schlicht keinen Sinn, ‚die Deutschen‘ pauschal abzulehnen, und es funktioniert auch gar nicht. Erstens weil eine solche Haltung in keiner Weise alltagstauglich ist und zweitens, weil die Betreffenden auch sich selbst in verschiedenen Anteilen als Deutsche begreifen und für sich Zugehörigkeit zur Gesellschaft in Deutschland reklamieren.
Das heißt nicht, dass in gefühlten Überlegenheitssituationen oder zur Erzeugung von Überlegenheitsgefühlen nicht mit „Du blöde Kartoffel“ gearbeitet werden kann. Aber dies hat in der Regel eine zumindest weitläufig reaktive Komponente, ist im gesellschaftlichen Machtgefüge anders zu verorten und liegt auf einer anderen Ebene als die hier interessierenden pauschalisierenden Ablehnungskonstruktionen. Ähnliches gilt, wenn es Konflikte mit anderen, als herkunftsdeutsch wahrgenommenen Jugendlichen oder Jugendgruppen gibt. Ein wesentlicher Kern der Sache ist hier m.E. oftmals Rassismus.
MP: Ihr stellt fest, dass es zwar keine sog. ‚Deutschenfeindlichkeit, sehr wohl aber eine starke Ablehnung von zwei deutschen Berufsgruppen gibt; Lehrer_innen und Polizist_innen. Diese wird mit prägenden Diskriminierungserfahrungen in Klassenzimmern und durch die Polizei begründet. Habt ihr mit so einem Ergebnis gerechnet?
KN: Überraschend ist das Ergebnis nicht. Vielmehr bestätigt es, dass die Rede von ‚Deutschenfeindlichkeit‘ in erster Linie ein politischer Kampfbegriff ist. Bezogen auf das, was wir hinsichtlich der Ablehnung von Lehrer_innen und Polizist_innen, wenn das hier überhaupt der passende Begriff ist, vorgefunden haben, ist grundsätzlich zunächst zweierlei festzustellen. Zum einen taucht die Polizei in den Schilderungen der Jugendlichen eher als eine anonyme Instanz auf, während sich die Ablehnung bei Lehrer_innen oftmals an sehr konkreten Personen festmacht. Hier besteht ein Unterschied. Eine Gemeinsamkeit ist es hingegen, dass sich zum anderen beide Ablehnungen auf Funktionsträger in Institutionen beziehen. Diese sind mit starker Autorität ausgestattet und werden von den Jugendlichen auch so erlebt, nicht selten mit einer zum eigenen Nachteil gereichenden Qualität.
Im Anschluss an letztere Feststellung lassen sich sodann zwei Erklärungsebenen eröffnen. Erstens ist es tatsächlich so, dass die Jugendlichen im Kontakt mit diesen Personengruppen nach eigenem Erleben häufig Diskriminierungserfahrungen machen. Hier wie auch für viele andere Bereiche berichten sie davon und auf einer grundsätzlichen Ebene ist dies auch nicht anzuzweifeln. Beispielsweise ist ‚racial profiling‘ ein bekanntes polizeiliches Problem und zumindest latente rassistische Haltungsanteile oder eine unzureichende Sensibilität für interkulturelle Herausforderungen sind leider auch unter Pädagog_innen zu finden. Vor diesem Hintergrund sind die ablehnenden Haltungen der Jugendlichen als reaktiv und durchaus begründet einzuordnen. Gleichzeitig kann das Diskriminierungsnarrativ von ihnen aber auch in Stellung gebracht werden, um mit als schwierig oder eben nachteilig erlebten Situationen und Entwicklungen umzugehen und die Verantwortung bei anderen abzuladen. Hier hat unsere Studie an manchen Stellen gezeigt, wie eine unter Umständen auch nur temporäre Selbstethnisierung von Jugendlichen zur Selbstentlastung oder -behauptung eingesetzt werden kann.
Damit ist bereits angedeutet, dass das Erklärungsmuster Diskriminierung für sich allein genommen zu kurz greift. Denn zweitens ist es schließlich so, dass Konflikte mit Autoritäten bei Jugendlichen immer eine Rolle spielen. Gerade Polizist_innen und Lehrer_innen sind Personengruppen, die sich qua ihres gesellschaftlichen Auftrages auf je spezifische Weise mit ihnen auseinandersetzen und mit denen es daher nahezu zwangsläufig auch zu Reibungen kommt. In dem einen Fall vor allem im öffentlichen Raum, im anderen Fall im institutionellen Rahmen der Schule. Neben der Familie sind Auseinandersetzungen mit genau diesen Autoritäten gewissermaßen Kulminationspunkte jugendtypischer Revolten. Diese Feststellung eröffnet auf einer viel weitläufigeren Ebene die Frage, wie in einer Gesellschaft Sozialisation gerahmt wird und wie Kontakt, Austausch und Aushandlung zwischen ihren Akteur_innen sozial und institutionell organisiert sind.
MP: Gab es andere, für euch überraschende Ergebnisse eurer Studie?
KN: Als Forschungsteam sind wir bereits mit einem thematischen Vorwissen und einem Erfahrungsschatz in das Projekt gegangen. Nicht ohne Grund erschien es uns bereits zu Beginn als fragwürdig und viel zu statisch, Jugendliche anhand von einzelnen Aussagewerten auf diese oder jene Menschenfeindlichkeit festzulegen.
Was uns dann aber teilweise doch überrascht hat, war die tatsächlich enorm hohe Fluidität, der wir im Forschungsfeld begegneten. Die Jugendlichen präsentierten sich uns in einer Lebensphase, in der vieles in Bewegung ist und in der zugleich Beweglichkeit gefordert wird. Dies galt insbesondere auch für ihre ablehnenden Haltungen. Hier waren nicht nur zwischen den beiden Interviewzeitpunkten, vielfache und durchaus abrupte Haltungswechsel zu verzeichnen, sondern die Jugendlichen ließen auch eine große Fähigkeit des Managements vermeintlicher Widersprüche erkennen, indem sie sich kontextabhängig und situationsbezogen äußerst unterschiedlich positionierten.
Durch die erfahrungsorientierte Rekonstruktion ihrer Lebenszusammenhänge ließ sich dieses Fließende nachzeichnen und erklären und zwar mit dem klaren Ergebnis, dass sich von der Vorstellung kohärenter und in sich geschlossener jugendlicher Haltungswelten noch weitergehend verabschiedet und stattdessen das Dynamische und Prozesshafte als das eigentlich Charakteristische in den Mittelpunkt gestellt werden muss.
MP: Wir richten uns in unserer Arbeit und mit der Webseite ufuq.de vor allem an Pädagoginnen und Pädagogen. Was würden Sie denen mit auf den Weg geben? Welche Schlussfolgerungen für ihre Arbeit in Schule und Freizeit können sie ziehen?
KN: Gerade angesichts des aktuellen Entwicklungstrends, der sich etwa in zunehmendem und zunehmend enthemmtem Rassismus äußert und im Bodengewinn rechtspopulistischer bis rechtsextremer Parteien und Bewegungen ausdrückt, sieht sich die Arbeit von sozialen und pädagogischen Fachkräften mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Die Situation mag sich auf dem ersten Blick als relativ aussichtlos darstellen. Doch gerade wenn wir uns die jugendspezifische Beweglichkeit ablehnender Haltungen vor Augen führen, wird deutlich, dass es auch unter erschwerten Bedingungen immer Chancen zur Intervention gibt, um Veränderungen anzustoßen.
Wenn dabei die Erfahrungen der Jugendlichen als entscheidend für ihre Haltungen betrachtet werden, ist auch schnell klar, dass Ansätze von Überzeugungsarbeit, die auf der Einstellungsebene verbleiben und hier das bessere Argument suchen, allein nicht ausreichen. Vielmehr kommt es darauf an, eben diese Erfahrungsbestände aufzubrechen und sie mit neuen Eindrücken und Möglichkeiten anzureichern. Hierfür können etwa die Förderung des Selbstwirksamkeitserlebens, Gruppenbildungsprozesse oder die Stärkung von Selbst- und Sozialkompetenzen zentral sein. Und es bedarf einer professionellen Haltung, die nicht versucht, die Dinge über die innehabende Funktion und die damit verbundene Autorität zu regulieren, sondern sich parteiisch und zugleich positioniert auf eine kontinuierliche Beziehungsarbeit mit den Jugendlichen einlässt.
Dazu kann das von uns als Analyseraster verwendete KISSeS-Modell gut auch als Planungsinstrument herangezogen werden. Es bietet eine Folie für die Gestaltung pädagogischer Angebote, die in die Erlebniswelten von Jugendlichen hineinwirken, ihnen neue konstruktive Lebensgestaltungserfahrungen vermitteln und damit im Verbund alternative Deutungsangebote zu bisherigen Ablehnungskonstruktionen an sie herantragen.
In teilweiser personeller Kontinuität zur Studie haben wir diesen Ansatz bereits im Rahmen von Praxis-Wissenschafts-Kooperationen erfolgsversprechend erprobt. Hier ist insbesondere das im Frühjahr diesen Jahres abgeschlossene Projekt „Rückgrat!“ zu erwähnen. Auf der Grundlage einer evaluierten Durchführung von Praxisangeboten in den Arbeitsfeldern der Offenen und Aufsuchenden Jugendarbeit sowie der Jugendbildungsarbeit ist hier ein Leitfaden entstanden, der für eine systematische und strategische Angebotsgestaltung herangezogen werden kann.
Daran anknüpfend werden aktuell mit dem ebenfalls an der Hochschule Esslingen angesiedelten Projekt „Land in Sicht!“ im Rahmen eines bundesweiten Kooperationsverbundes anwendungsorientierte Fort- und Weiterbildungen für Fachkräfte und andere Akteursgruppen gestaltet, die sich unter den besonderen Bedingungen ländlicher Räume gegen PAKOs und für ein demokratisches Gemeinwesen engagieren wollen.
Veröffentlicht am 16. April 2018
Dieses Interview erschien zuerst am 28. November 2017 auf der Seite ufuq.de. Ufuq.de ist ein anerkannter Träger der freien Jugendhilfe und in der politischen Bildung und Prävention zu den Themen Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus aktiv.