„Wir brauchen mehr Evaluationen politischer Bildungsangebote.“ Fünf Fragen an Dr. Christian Boeser

Dr. Christian Boeser ist Akademischer Oberrat mit Schwerpunkt Erwachsenen- und Weiterbildung am Lehrstuhl für Pädagogik der Universität Augsburg sowie Leiter des Netzwerks Politische Bildung Bayern. Im Interview berichtet er von einem aktuellen Projekt zur Förderung demokratischer Streitkultur und betont die Bedeutung der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis, die für ihn auch den Einbezug von Studierenden bedeutet.


Dr. Christian Boeser (Foto: Andreas Keilholz)

Dr. Christian Boeser ist Akademischer Oberrat mit Schwerpunkt Erwachsenen- und Weiterbildung am Lehrstuhl für Pädagogik der Universität Augsburg sowie Leiter des Netzwerks Politische Bildung Bayern. Im Interview berichtet er von einem aktuellen Projekt zur Förderung demokratischer Streitkultur und betont die Bedeutung der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis, die für ihn auch den Einbezug von Studierenden bedeutet.

 

1. Was ist Ihr aktuelles und was war Ihr letztes Forschungsprojekt zur politischen Bildung?

Aufbauend auf verschiedenen Vorläuferprojekten (u.a. „Qualitätsstandards für Argumentationstrainings gegen Stammtischparolen“) startete im April 2024 das Projekt „Streitförderer“. Das Projekt möchte für die Bedeutung einer demokratischen Streitkultur sensibilisieren, diese gerade auch bei emotional besetzten Themen erfahrbar machen und dadurch unsere Demokratie stärken. Angesiedelt beim Wertebündnis Bayern werden in einem ersten Schritt Erfolgs- und Qualitätskriterien gelungener Begegnungsformate identifiziert. Darauf aufbauend werden eine Handreichung und ein ein Ausbildungskonzept für „Streitförderer“ entwickelt. Diese „Streitförderer“ sollen zivilgesellschaftlichen Akteuren sowie Politik und Verwaltung als Expert*innen für die Planung, Umsetzung und Moderation von Veranstaltungen zur Verfügung stehen. An fünf Modellstandorten werden schließlich unterschiedliche Formate durchgeführt und evaluiert.

Das Wertebündnis Bayern ist ein Zusammenschluss von über 200 bayernweit aktiven Organisationen und Verbänden, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die Wertebildung bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Bayern zu stärken. In zahlreichen Projekten werden jungen Menschen Erfahrungs- und Handlungsräume für wertorientiertes Verhalten geboten. Die seit dem Start des Projekts „Streitförderer“ praktizierte Zusammenarbeit von wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren (u.a. Universität Augsburg, Bayerischer Bauernverband, Centrum für angewandte Politikforschung, Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern) soll die Voraussetzungen für einen optimalen Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Bildungspraxis gewährleisten.

Mit der „Langen Nacht der Demokratie“ (LNdD) wurde in den vergangenen Jahren ein neues Vernetzungs- und Begegnungsformat entwickelt, erprobt, evaluiert und bayernweit implementiert. Ziel der LNdD ist es, einen gemeinsamen öffentlichen Raum zu schaffen, wo Wertschätzung und Inspiration für Demokratie durch Begegnungen ermöglicht werden. Neben dem konkreten Event, der eigentlichen LNdD, möchte das Projekt auch die Vernetzung vor Ort stärken: Die Zusammenarbeit von beispielsweisen Jugendverbänden und Volkshochschulen in den jeweiligen Kommunen bringt Akteure der politischen Bildung zusammen, die bislang nicht oder nur wenig miteinander kooperiert hatten. Der ausführliche Evaluationsbericht über die erste bayernweite Durchführung im Jahr 2018 ist hier verfügbar.

 

2. Welche Ihrer Forschungsergebnisse schätzen Sie als besonders relevant für die Praxis politischer Bildung ein?

Von besonderer Bedeutung sind etwa Ergebnisse zur erfolgreichen Vernetzung politischer Bildung und Ergebnisse zur Förderung der Ambiguitätstoleranz.

Beispielsweise haben wir Qualitätsstandards für Argumentationstrainings gegen Stammtischparolen auf der Basis von Experteninterviews und einer internationalen Fachtagung erarbeitet. In unseren Projekten ist dabei das Spannungsfeld oder Dilemma zwischen Qualitätsstandards und Vielfalt, ohne in Normierung oder Beliebigkeit abzugleiten, immer eine dauerhafte Herausforderung.

In dem von der Bundeszentrale für politische Bildung geförderten Projekt „Dialog, Verantwortung und Zukunft: Eine Dorferneuerung in den Köpfen“ wurde ein Begegnungsformat für den ländlichen Raum entwickelt, erprobt, evaluiert, implementiert und skaliert. Eine Handreichung sowie weitere Veröffentlichungen hierzu finden Sie hier.
 

3. Welche Themen im Kontext politischer Bildung sollten Ihrer Meinung nach beforscht werden?

Wir benötigen mehr Forschung zur Relevanz und Verankerung einer demokratischen Streitkultur sowie zu Orten, Methoden und Formaten zur Förderung einer demokratischen Streitkultur in Deutschland und anderen Ländern. Wir benötigen mehr Wissen über die Implementierung von politischen Bildungsangeboten im schulischen und außerschulischen Bereich. Wir brauchen auch mehr Evaluationen dieser Bildungsangebote.  


4. Welchen Gewinn kann ein Dialog von Wissenschaft und Praxis und ein Austausch zwischen den Wissenschaftsdisziplinen für die politische Bildung bringen?

In funktionierenden Netzwerken werden Innovationen in Wissenschaft und Praxis dadurch unterstützt, dass unabhängig von formalen Organisationszusammenschlüssen ein „Kreatives Feld“ (Olaf Axel Burow) entstehen kann. Gerade auch die Einbeziehung von Studierenden kann hierfür ein wichtiger Beitrag sein, z.B. indem sie im Rahmen universitärer Seminare bei der Konzeptentwicklung und -implementierung oder auch bei der Evaluation konkreter Projekte mitwirken.


5. Die Fachstelle politische Bildung hat eine Landkarte der Forschung zur politischen Bildung entwickelt, um Austausch und feldübergreifende Zusammenarbeit zu fördern, zwischen und innerhalb der Wissenschaftsdisziplinen sowie zwischen Wissenschaft und Praxis. Sie sind dort mit einem Eintrag vertreten. Über welche Kontaktaufnahmen oder Anfragen anderer Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen oder sonstiger Interessierter würden Sie sich freuen?

Aktuell insbesondere alle diejenigen, die sich mit dem Thema „Demokratische Streitkultur“ beschäftigen.

 

Veröffentlicht am 06.11.2024

 

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