„Vielen Akteur_innen der OKJA ist nicht bewusst, dass sie politische Bildung machen und diese noch stärker in ihre Arbeit integrieren könnten.“ Interview mit Stefanie Kessler
Stefanie Kessler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Organisationspädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 2020 reichte sie ihre Dissertation zum Thema „Demokratielehre in Politikunterricht und Schule. Eine qualitativ-rekonstruktive Studie zu Lehrorientierungen von Politiklehrern/innen“ am Institut für Politikwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena ein.
Stefanie Kessler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Organisationspädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 2020 reichte sie ihre Dissertation zum Thema „Demokratielehre in Politikunterricht und Schule. Eine qualitativ-rekonstruktive Studie zu Lehrorientierungen von Politiklehrern/innen“ am Institut für Politikwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena ein. Neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit arbeitete sie einige Jahre hauptberuflich in der außerschulischen politischen Jugend- und Erwachsenenbildung. Stefanie Kessler forscht sowohl zu schulischer politischer Bildung als auch zu politischer Bildung im nonformalen Bereich. Im Interview berichtet sie von ersten Forschungsergebnissen aus ihrem Projekt „Politische Bildung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit“.
Fachstelle politische Bildung (FpB): Frau Kessler, im Zusammenhang mit Ihrem Forschungsprojekt „Politische Bildung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit“ stellen Sie fest, dass die Offene Kinder- und Jugendarbeit (OKJA) im Diskurs zur außerschulischen politischen Bildung eine eher marginalisierte Position hat. Woran machen Sie dies fest? Welche Gründe gibt es Ihrer Meinung nach dafür?
Stefanie Kessler (SK): Wie politische Bildung sogenannte bildungsferne und sozial benachteiligte Jugendliche erreichen kann, ist für mich die zentrale Frage. Meist wird nur auf schulische Bereiche geschaut, weil dort formal die Möglichkeit gegeben zu sein scheint, „alle zu erreichen“. Schule hat jedoch ein strukturelles Problem, das dieses Argument aushebelt. Zum einen erreicht man diese Jugendlichen mit einem noch häufig anzutreffenden institutionenkundlichen Politikunterricht kaum und zum anderen ist die Wochenstundenzahl für politische Bildung je nach Schultyp sehr unterschiedlich. Politik wird insbesondere an Haupt-, Real- und Gesamtschulen, meist mit anderen Fächern zusammen, unterrichtet, weshalb oftmals kein genuiner Politikunterricht stattfindet, sondern eher Geschichtsunterricht oder soziales Lernen. Unabhängig davon kommt es immer auch darauf an, ob Lehrende das Interesse der Jugendlichen für politische Bildung wecken können.
Im Vergleich dazu wird zu wenig auf Praxisfelder geschaut, in denen sogenannte bildungsferne und sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche tatsächlich erreicht werden, z.B. in Jugendzentren oder der aufsuchenden mobilen Jugendarbeit, also vor allem in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit.
Dazu wird ein separierter Diskurs in der Sozialpädagogik bzw. Sozialen Arbeit geführt, der von vielen in der politischen Bildung kaum wahrgenommen wird. Meiner Meinung nach hat das damit zu tun, dass politische Bildung vor allem in der Schulforschung und Politikdidaktik beforscht wird, in anderen Wissenschaftsdisziplinen und Fachbereichen hingegen kaum verankert und institutionalisiert ist. Es gibt nur sehr wenige Lehrstühle, wie der von Benedikt Sturzenhecker an der Universität Hamburg, die sich auf politische Bildung / Demokratiebildung im außerschulischen Bereich spezialisiert haben.
FpB: Welche Konsequenzen hat diese Situation?
SK: Ich sehe hier vor allem drei Aspekte. 1. Wissenschaftspolitisch gelingt es diesen wenigen Akteur_innen kaum, Druck auszuüben, um mehr Lehrstühle mit dem Forschungsschwerpunkt politische Bildung im außerschulischen nonformalen Bereich einzurichten. 2. In der Praxis denkt die politische Jugendbildung die Offene Kinder- und Jugendarbeit wenig mit. Den Diskurs dominieren hier meist Jugendbildungsstätten. Offene Arbeit ist für viele Akteur_innen der politischen Jugendbildung kein zentrales, eigenständiges Handlungsfeld politischer Bildung, sondern eher Kooperationspartner. 3. Auch für viele Träger der Offenen Kinder- und Jugendarbeit rangiert politische Bildung bei den eigenen Arbeitsschwerpunkten eher weiter hinten, weshalb sich auch nur einzelne, interessierte Praxisakteur_innen in den Fachdiskurs einbringen.
FpB: In Ihrer Studie knüpfen Sie genau daran an, indem Sie untersuchten, welche Narrative über politische Bildung und welches implizite handlungspraktische Wissen zu politischer Bildung pädagogische Fachkräfte in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit haben. Welche Erkenntnisse konnten Sie gewinnen?
SK: Zurzeit bin ich mit der Auswertung der Interviewdaten beschäftigt. So führte ich kürzlich, um mehr Vergleichsfälle aufzunehmen, weitere Interviews mit Pädagog_innen, die in der aufsuchenden Jugendarbeit und in Jugendzentren in Niedersachsen arbeiten. Insgesamt bin ich bei den Erhebungen relativ offen vorgegangen, d.h. zunächst habe ich die Jugendarbeiter_innen nach Narrationen über die allgemeine Praxis in der Offenen Arbeit gefragt. Das erhobene Material habe ich dann mit Blick auf meine Forschungsfrage untersucht. Dabei interessierte mich besonders, inwiefern Praktiken der politischen Bildung, demokratischer Partizipation und Demokratieerfahrungen in die allgemeine OKJA eingebettet werden – oder auch nicht. In manchen Fällen zeigte sich, dass politische Bildung / Demokratiebildung in Projektarbeiten und Kooperationen mit Schule ausgegliedert und nicht in die alltägliche Praxis der OKJA integriert wird.
FpB: Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie daraus für die politische Bildung?
SK: Das Verständnis von politischer Bildung orientiert sich oftmals sehr stark an einem schulischen Bildungsbegriff und einem sehr eng gefassten, rein wissensbasierten Politikverständnis. Viele Jugendarbeiter_innen in der OKJA sehen politische Bildung deshalb nicht als Teil ihrer eigenen pädagogischen Praxis an, weil sie wenig Bezug zu schulischem Lernen haben und sich auch bewusst davon abgrenzen. Für viele von ihnen ist politische Bildung deshalb nur in Kooperation mit Schule denkbar.
Jugendarbeiter_innen, die politische Bildungsarbeit in ihre alltägliche Arbeit integrieren, betten diese meist situativ in informelle Gespräche oder Freizeitaktivitäten ein. Jugendliche kommen nicht ins Jugendzentrum oder an öffentliche Plätze, um eine Bildungserfahrung zu machen oder etwas zu lernen, sondern um sich zu treffen, Spaß zu haben und ihre Freizeit zu genießen. Daran wird in der pädagogischen Arbeit mit passenden Angeboten angeschlossen. Politische Bildung muss jugendkulturell anschlussfähig sein, deshalb findet sie in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit eher „verdeckt“ statt. Die interviewten Jugendarbeiter_innen berichten, dass Formate wie Workshops oder Diskussionsrunden von den Kindern und Jugendlichen wenig angenommen werden, weil sie diese als zu schulisch wahrnehmen.
FpB: Findet in der OKJA politische Bildung auch oft „unbewusst“ statt?
SK: Ich unterscheide eher zwischen zwei verschiedenen Formen politischer Bildung / Demokratiebildung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. 1. Niedrigschwellige Formen von politisch-sozialem Lernen, in denen es um Auseinandersetzungen mit Konflikten unter den Jugendlichen geht. Diese bieten oft Möglichkeiten zu politischem oder demokratischem Lernen. 2. Bei Demokratiebildung geht es um Partizipation von Kindern und Jugendlichen; hier gibt es in Jugendzentren zum Teil Jugendräte oder ähnliche Gremien. Fachkräfte sehen jedoch selten das Potenzial, dies auch auf andere Kontexte zu übertragen.
FpB: Interessieren sich denn Jugendliche überhaupt für Politik?
SK: Politik ist in den Lebenswelten von Jugendlichen durchaus präsent. „Unbewusst“ findet politische Bildung hier in Ansätzen statt, wenn Jugendliche sich für bestimmte Themen (Syrienkonflikt, Arbeitslosigkeit etc.) interessieren und sie mit den Jugendarbeiter_innen besprechen möchten. Diese Gesprächsbedarfe und -themen werden von den Pädagog_innen nicht immer als politische Bildungsanlässe und -prozesse wahrgenommen und damit nicht als politische Bildung gerahmt. Ich halte dies auch für einen Grund, weshalb die Offene Arbeit im Fachdiskurs der außerschulischen politischen Bildung wenig vertreten ist. Vielen Akteur_innen der OKJA ist nicht bewusst, dass sie politische Bildung machen und diese noch stärker in ihre Arbeit integrieren könnten.
FpB: Welche Chancen und Möglichkeiten bietet die OKJA für politische Bildung mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen oder könnte sie bieten?
SK: Die Offenen Kinder- und Jugendarbeit bietet mit ihrem Freizeitcharakter und jugendkulturellen Angeboten viele Anschlussmöglichkeiten für politische Bildungsarbeit, weil sie an den Interessen und der Sprache der Jugendlichen anknüpft. Eine große Chance liegt außerdem darin, dass auch Jugendliche, die als eher bildungsfern und aufgrund unterschiedlicher Aspekte als sozial exkludiert bezeichnet werden, erreicht werden.
In der OKJA geht es oft darum, wie Jugendliche ihr Jugendzentrum gestalten wollen, wie und womit sie sich einbringen möchten. Das alles bietet Anlässe für demokratiebildende Prozesse: Wie können Beteiligungs- und Selbstbestimmungsprozesse unterstützt werden? Wie kann das an politische Praktiken in anderen Kontexten angeschlossen und übertragen werden?
Außerdem verstehen sich Jugendarbeiter_innen der OKJA als Vertreter_innen von Jugendlichen im öffentlichen Raum und gegenüber der Politik. Dies bietet das Potenzial, dass Jugendliche lernen, ihre Interessen im kommunalpolitischen Kontext zu vertreten und sich ihres Rechts bewusst zu werden, sich im öffentlichen Raum aufzuhalten, zu bewegen und diesen für sich auch nutzen zu dürfen.
FpB: Wie Sie anfangs festgestellt haben, gibt es wenig Forschung zu politischer Bildung in der OKJA. Welche Themen sollten aus Ihrer Sicht besonders beforscht werden?
SK: Meine bisherigen Erhebungen haben gezeigt, dass eine Professionalisierung hierzu in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit fehlt. In der Aus- und Fortbildung von Jugendarbeiter_innen muss es neben Freizeit- und Hilfeorientierung stärker auch um Bildungsorientierung gehen. Fehlt den Fachkräften ein Bildungsverständnis in ihrer Arbeit, werden Anlässe für (politische) Bildungsprozesse weder erkannt, genutzt noch reflektiert. Die OKJA und insbesondere auch Fragen der politisch-demokratischen Bildung sollten im wissenschaftlichen Bereich, z.B. in der Erziehungswissenschaft oder der Sozialen Arbeit, mehr Platz einnehmen. Wird sie kaum beforscht, wird sie auch im Studium oder in der Ausbildung wenig thematisiert.
Wissenschaft kann ein fundiertes Fachwissen über politische Bildung für (angehende) Pädagog_innen bereitstellen. Politische Bildung würde so nicht nur mit Institutionenkunde oder Schule assoziiert werden. Auch das Überwältigungs- und Kontroversitätsgebot sollte Jugendarbeiter_innen bekannt sein.
Im Hinblick auf Professionalisierung fände ich es sinnvoll, verstärkt auf Modell- oder Begleitforschung zu setzen. Wissenschaftler_innen könnten beispielsweise zusammen mit Einrichtungen der OKJA politische Bildungsmöglichkeiten in der alltäglichen Praxis ermitteln und/oder entwickeln. Diese Prozesse würden dann wissenschaftlich begleitet, indem man die Praktiken gemeinsam reflektiert oder untersucht, welche politischen Bildungs- und Lernprozesse bei den Jugendlichen stattfinden.
Zuletzt möchte ich noch anmerken, dass mehr Austausch und Kommunikation zwischen den verschiedenen Forschungsfeldern nötig ist und gewinnbringend wäre. Dazu zwei Beispiele. 1. Der Call for Papers zur diesjährigen Jahrestagung der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE) – „Politische Bildung in der superdiversen Gesellschaft“, 10.-12.Juni 2021 als Online-Tagung – ist relativ weit gefasst. Die GPJE wird jedoch vorwiegend als Austauschplattform für Politikdidaktiker_innen und schulische politische Bildung wahrgenommen. Wissenschaftler_innen, die zur außerschulischen politischen Bildung forschen, fühlen sich kaum angesprochen. 2. Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) befasst sich mit Fragen, wie politische Partizipation durch Soziale Arbeit ermöglicht wird oder inwiefern Soziale Arbeit sich als politischer Akteur begreift. Meiner Meinung nach sollte es hier mehr Verknüpfungen zur politischen Bildung geben – wie und wo findet in der Sozialen Arbeit politische Bildung statt?
FpB: Vielen Dank für das Gespräch.
Veröffentlicht am 04.02.2021
Zum Weiterlesen
- Sie finden Stefanie Kessler in der Landkarte zur Forschung politischer Bildung
- Videoimpuls von Stefanie Kessler zur Fachtagungssession: Politische Bildung und Demokratiebildung – zwei Seiten einer Medaille?
- Kessler, Stefanie: Politische Bildung mit sozialbenachteiligten Jugendlichen in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Eine Spurensuche in Vergangenheit und gegenwärtiger Praxis. In: Hufer, Klaus-Peter / Oeftering, Tonio / Oppermann, Julia (Hrsg.) (2018): Wo steht die außerschulische politischer Jugend- und Erwachsenenbildung? Schwalbach Ts., S. 72-95
- Kessler, Stefanie: Politische Bildung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Erste Ergebnisse aus einem explorativen qualitativen Forschungsprojekt. In: Deichmann, Carl / Partetzke, Marc (Hrsg.) (2018): Schulische und außerschulische politische Bildung. Qualitative Studien und Unterrichtsbeispiele hermeneutischer Politikdidaktik. Wiesbaden, S. 159-175
- Datenbankeintrag: Achour, Sabine / Wagner, Susanne (2019): Wer hat, dem wird gegeben: Politische Bildung an Schulen: Bestandsaufnahme, Rückschlüsse und Handlungsempfehlungen. Schriftenreihe des Netzwerk Bildung. Berlin (245 S.) mehr lesen
- Datenbankeintrag: Gökbudak, Mahir / Hedtke, Reinhold (2018): Ranking Politische Bildung 2017. Politische Bildung an allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe I im Bundesländervergleich. Bielefeld (30 S.) // Gökbudak, Mahir / Hedtke, Reinhold (2019): Ranking Politische Bildung 2018. Politische Bildung an allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe I im Bundesländervergleich. Bielefeld (63 S.) // Gökbudak, Mahir / Hedtke, Reinhold (2020): Ranking Politische Bildung 2019. Politische Bildung an allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe I im Bundesländervergleich. Bielefeld (46 S.) mehr lesen