„Es geht darum, Teil dieser Gesellschaft zu sein.“ Interview mit Yasemin Soylu, Muslimische Akademie Heidelberg i.G.

Yasemin Soylu ist Geschäftsführerin der Muslimischen Akademie Heidelberg in Gründung sowie Mitgründerin des Vereins Teilseiend e.V. Mit uns sprach sie über Motivation und Ziele muslimisch getragener Bildungsarbeit sowie die Bedeutung von religiösen Perspektiven im demokratischen Diskurs und im gesellschaftlichen Zusammenleben.


Yasemin Soylu, Muslimische Akademie Heidelberg i.G. (Foto: Sabine Arndt)

Yasemin Soylu ist Geschäftsführerin der Muslimischen Akademie Heidelberg in Gründung sowie Mitgründerin des Vereins Teilseiend e.V. Mit uns sprach sie über Motivation und Ziele muslimisch getragener Bildungsarbeit sowie die Bedeutung von religiösen Perspektiven im demokratischen Diskurs und im gesellschaftlichen Zusammenleben. Sie stellt das Modellprojekt „Aus dem Glauben heraus!? Politische Bildung in muslimisch-konfessioneller Trägerschaft", das von 2019 bis 2022 von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb gefördert wurde, vor und berichtet über die Herausforderungen für neue Akteure, sich im Feld der politischen Bildung zu etablieren. Frau Soylu betont hierbei die Notwendigkeit einer Bereitschaft zu Veränderung und Innovation auf allen Seiten.

 

Fachstelle politische Bildung: Frau Soylu, Sie sind Geschäftsführerin der Muslimischen Akademie Heidelberg in Gründung sowie Mitgründerin des dahinterstehenden Vereins Teilseiend e.V. Wie kam es zu diesem Vorhaben und was ist Ihre Motivation?

Yasemin Soylu: Unser Verein ist seit zehn Jahren aktiv. Er entstand aus einer Initiative Heidelberger Muslim*innen. Wir hatten das Bedürfnis, Gesellschaft proaktiv mitzugestalten, uns an Diskursen zu beteiligen und Dienst an der Stadtgesellschaft zu leisten. Uns fiel damals auf, dass es für Muslim*innen keine zivilgesellschaftlichen Räume gibt, in denen sie sich für die Lösung gesamtgesellschaftlicher Herausforderungen einbringen und als Muslim*innen sichtbar werden können. Wir möchten mit unseren Bemühungen ein neues Verständnis von muslimischem Leben in Deutschland schaffen. In den letzten 20 Jahren sind wir immer wieder in die gleichen Debatten und Fragen verwickelt: Gehört der Islam zu Deutschland? Müssen sich Muslime integrieren? Passt der Islam mit demokratischen Grundwerten zusammen? Um die Fragen zu beantworten, brauchen wir Orte, an denen Diskurse geführt werden können und Theologie, Glaubensgemeinschaften sowie säkulare Zivilgesellschaft miteinander in Austausch gebracht werden. Uns Muslim*innen ist klar, dass wir hierhergehören und deshalb Verantwortung übernehmen wollen und müssen. Gesamtgesellschaftliche Probleme in Deutschland betreffen auch uns. Wir versuchen einen Beitrag zu leisten, sie zu lösen.

 

FpB: Welche Rolle spielt dabei politische Bildung?

YS: Für uns war klar, dass politische Bildung der Weg sein sollte, um als Muslim*innen an der Gesellschaft mitzuwirken. Unsere Inspiration stammt aus der Tradition christlich-politischer Bildungsakteure, die seit Jahrzehnten aus Überzeugung Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen und in diesem Sinne politische Bildung anbieten. Darum wollten wir auch muslimische Akademien – politische Bildungsakteure, die aus dem Glauben heraus handeln – schaffen, in denen wir gemeinsam unsere gesellschaftlichen Herausforderungen angehen und nach Lösungen suchen.

 

FpB: Was bedeutet in diesem Zusammenhang der Vereinsname Teilseiend und worin liegt der Unterschied zum Begriff der Teilhabe?

YS: Wir haben uns gefragt, was der beste Begriff ist, um auszudrücken, was wir vorhaben. Wir sind auf Teilhabe oder Teilwerden gestoßen, aber diese Begriffe drücken nicht aus, was wir sichtbar machen wollen. Bei Teilwerden geht es mehr um einen Integrationsprozess. Für uns ist muslimisches Leben aber kein Integrationsgegenstand, denn es ist seit Jahrzehnten Teil unserer Gesellschaft hier in Deutschland. Es muss nur sichtbarer und wirksamer werden. Teilhaben ist für uns zu einseitig. Es geht nicht darum, nur zu fordern und zu nehmen. Wir fühlen uns als Bürgerinnen und Bürger verantwortlich und wollen deshalb auch geben. Es geht also darum, Teil dieser Gesellschaft zu sein. Und wenn es dafür einen Begriff im Deutschen noch nicht gibt, dann schaffen wir ihn eben selbst.

 

FpB: Wie sieht Ihr Verein heute aus und wie darf man sich Ihre Arbeit vorstellen?

YS: Als ehrenamtliche Initiative gestartet, arbeiten wir heute mit über 20 hauptamtlichen Mitarbeitenden in Heidelberg und Berlin. Jährlich organisieren wir über 150 Bildungsveranstaltungen, die ein breites Spektrum abdecken: Kinder- und Jugendbildung sowie Erwachsenenbildung zu Themen wie Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Islam und muslimisches Leben in Deutschland, Antidiskriminierung, Präventionsarbeit und mehr. Wir versuchen aus muslimischer Perspektive Impulse zu setzen und Diskurse aktiv mitzugestalten.

 

FpB: Gibt es noch weitere muslimische Akteure mit ähnlichen Ansätzen?

YS: Mittlerweile gibt es bundesweit viele Initiativen, die sich auf einen ähnlichen Weg gemacht haben wie wir. Es gibt aber bisher noch keine institutionalisierten Räume politischer Bildung in muslimischer Trägerschaft, heißt auf Dauer angelegte und langfristig geförderte Einrichtungen. Wir können unsere Arbeit über Projektfinanzierung zwar mittlerweile auch im Hauptamt umsetzen, fast alle anderen Organisationen im Themenfeld sind jedoch immer noch mehrheitlich ehrenamtlich tätig.

 

FpB: Sie nannten Verantwortung als zentraler Begriff, den Sie mit muslimischem Glauben verknüpfen und der durch diesen begründet wird. Was zeichnet politische Bildung in muslimischer Trägerschaft noch aus und was ist darüber hinaus das Muslimische an Ihrer Bildungsarbeit?

YS: Als wir unseren Verein gegründet haben, haben wir uns alle als Muslimin oder Muslim identifiziert und positioniert. Diese Identität und Positionierung hat jede Person für sich teilweise ganz unterschiedlich definiert und ausgelebt. Wir haben über 5 Millionen Muslim*innen in Deutschland und dementsprechend gibt es auch sehr viele verschiedene Antworten auf die Frage, was es heißt, muslimisch zu sein. Uns als Initiative war aber klar: Muslimisch sein heißt für uns nicht nur, in die Moschee zu gehen, zu beten, zu fasten und religiöse Praxis auszuüben, sondern uns als gläubige Menschen in einem gesellschaftlichen Umfeld zu positionieren und unsere Gesellschaft proaktiv mitzugestalten. Deswegen heißen wir Muslimische Akademie, weil es um die gelebten Glaubensvorstellungen in ihrer Vielfalt geht und nicht um theologische Positionierungen. Wir sind noch nicht so weit, dass wir sagen, wir haben ein gemeinsam erarbeitetes Leitbild oder eine Ableitung aus theologischen Grundlagen. Das ist ein Punkt, der noch aussteht. Für die politische Bildungsarbeit bedeutet unsere muslimische Identität zunächst einmal, dass wir aus vielfältigen muslimischen Perspektiven Diskurse mitgestalten und versuchen, Antworten zu liefern.

 

FpB: Was bietet die Perspektive des Glaubens in der Gegenwart?

YS: Glaubensgemeinschaften waren und sind schon immer Teil von säkularen Gesellschaften, werden auch weiterhin Teil unseres Zusammenlebens hier sein. Und da geht es dann um die Frage, welche Rolle Religion für ein säkulares Zusammenleben oder für unsere Gesellschaft spielt, aber auch, welche Herausforderungen mit Religionen oder Glaubensvorstellungen einhergehen. Deshalb ist es wichtig, miteinander ins Gespräch zu gehen und gewisse Fragen, die bisher isoliert in den Moscheegemeinden oder anderen Glaubensgemeinschaften diskutiert werden, nicht zu tabuisieren.

Grundsätzlich stellt sich die Frage: Was motiviert Menschen, gemeinwohlorientiert und demokratisch zu handeln? Glaube und Religion können hierfür eine Motivation sein, aber es ist auch wichtig, sich kritisch mit den Grenzen religiöser Vorstellungen auseinanderzusetzen, die ein demokratisches und gemeinwohlorientiertes Handeln behindern können. Wir laden Menschen verschiedener religiöser und kultureller Hintergründe ein, miteinander in den Dialog zu treten und an der Muslimischen Akademie teilzunehmen. Hier werden neben Fragen rund um Islam und Muslimisches Leben auch Themen wie Digitalisierung, Krieg und Frieden, globale Ungleichheiten und Klimawandel diskutiert. Wir möchten, dass sich die verschiedenen Perspektiven gegenseitig bereichern und ein Weg aus dem „Wir gegen die anderen"-Denken gefunden wird.

 

FpB: Von 2019 bis 2022 haben Sie ein von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb gefördertes Modellprojekt namens „Aus dem Glauben heraus!? Politische Bildung in muslimisch-konfessioneller Trägerschaft“ geleitet. In diesem Projekt hat sich ein Netzwerk aus muslimischen Bildungseinrichtungen in ganz Deutschland gebildet. Ein Ziel war es, dass zukünftig mehr von diesen Einrichtungen eine formalrechtliche Anerkennung erhalten. Was waren denn bis dato die Schwierigkeiten und Barrieren, die verhindert haben, dass es diese Anerkennung von Bildungseinrichtungen gibt?

YS: Ein wichtiger Faktor ist Zeit. Bisher waren wir als Communities noch nicht so weit, die Anerkennung zu beantragen. Der Generationenwechsel in den letzten zehn Jahren hat zu einer massiven Veränderung der muslimischen Zivilgesellschaft geführt. Aber auch die Gesellschaft als Ganzes war noch nicht so weit. Die Idee der Gründung einer Muslimischen Akademie ist nicht neu, bereits 2004 wurde dieses Vorhaben von der Bundeszentrale für politische Bildung auf Bundesebene ins Leben gerufen. Diese Idee konnte damals aber nicht realisiert werden. Zehn Jahre später haben wir uns mit Teilseiend mit derselben Idee, aber einem ganz anderen Ansatz, auf den Weg gemacht. Unser Weg ist der einer Graswurzelbewegung mit einem Bottom-up-Aufbau. Immer mehr Muslim*innen verstehen sich als selbstverständlicher Teil dieser Gesellschaft, wollen aktiv werden. Wir können beobachten, wie das Engagement bundesweit zunimmt. Das geschieht alles im Ehrenamt, also mit einer großen Einsatzbereitschaft. Mittlerweile sagen jedoch viele, dass sie ihre Arbeit ehrenamtlich nicht mehr lange aufrechterhalten können. Entweder wir schaffen es jetzt, dass die Einrichtungen eine Finanzierung bekommen und professionelle Strukturen aufbauen, oder es werden sich Vereine auflösen und ihre Arbeit einstellen. Viele muslimische Einrichtungen brauchen dringend eine Strukturförderung, um hauptamtliche Mitarbeiter*innen anzustellen und eine Geschäftsführung sowie eine Verwaltung aufzubauen, die dann auch die Projektmittel verwalten kann. Das Fördersystem funktioniert so aber nicht, denn man erhält erst die Projektmittel und kann dann eine inhaltliche Projektleitung einstellen. Wenn man allerdings noch keine Leitungs- oder Verwaltungsstruktur hat, wird es schwierig. Deshalb stellt sich die Frage, wie sich die muslimischen Organisationen an bestehende Strukturen anpassen und erst einmal in Vorleistung gehen, bis sie hauptamtliche Strukturen haben, oder wie sich Fördermittelgeber an diese Bedürfnisse anpassen können, um die bisherige Arbeit nicht verlorengehen zu lassen.

 

FpB: Was sollte denn als Nächstes geschehen? 

YS: Es bedarf unserer Meinung nach die Bereitschaft zu Veränderungen und Innovation auf allen Seiten, auch auf der Ebene der Förderstrukturen. Wer ist zuständig für die Förderung von muslimisch getragener politischer Bildung? Die ersten Ansprechpartner*innen, an die wir oft verwiesen werden, sind religionspolitische Sprecher*innen. Aber wir verstehen uns ja nicht als Religionsgemeinschaft, sondern als zivilgesellschaftliche Akteure. Die Ansprechpartner*innen für politische Bildung wiederum sagen, sie seien nicht für Religion zuständig, während die integrationspolitischen Sprecher auch nicht passend sind, da es uns nicht um Integrationsprozesse geht. Wir müssen das Rad aber nicht neu erfinden. Die Möglichkeit der Anerkennung als Träger der Weiterbildung im Land oder die Anerkennung als Träger der politischen Bildung bei der Bundeszentrale steht allen offen, es haben bislang nur sehr wenige muslimische Organisationen versucht. Wir nutzen jetzt selbstverständlich diese Möglichkeiten. Und wenn man da die Strukturen kennt und versteht, dann gelingt das auch.

 

FpB: Welche weiteren Themen oder Diskussionsbedarfe gab es im Netzwerk?

YS: Es gab viel Reflexion zur inhaltlichen Arbeit und Profilierung und einen Narrativwechsel. Denn das anfängliche Engagement war stark davon geprägt, dass auf gesellschaftliche Diskurse und Fragestellungen rund um den Islam reagiert wurde, beispielsweise auf Extremismusvorwürfe oder antimuslimischer Rassismus. Wir haben uns dann jedoch gefragt: Welche Themen möchten wir behandeln? Was liegt uns selbst am Herzen? Es war und ist weiterhin wichtig, diese Diskussion zu führen. Eine weitere große Frage war die nach einem Leitbild und Selbstverständnis. Da geht es dann auch darum, wie man sich als einzelne Einrichtung benennen möchte. Hat man „muslimisch“ oder „islamisch“ im Namen? Was bedeutet es, muslimisch getragene Bildungsarbeit zu machen? Auch die Frage nach dem Verhältnis von religiöser und politischer Bildung steht im Raum. Und auch über Kooperation und Zusammenarbeit wurde viel gesprochen. Mit wem kann ich zusammenarbeiten? Welche Netzwerke sind für mich wichtig? Was können wir von anderen lernen? Was können etablierte Akteur*innen oder Netzwerkpartner von uns lernen? Hierzu haben wir Beziehungen aufgebaut, uns vernetzt und Wissensaustausch organisiert.

 

FpB: Wie haben etablierte Träger politischer Bildung reagiert?

YS: Die Reaktionen waren durchweg positiv. Viele etablierte Einrichtungen sind sehr an muslimischen Perspektiven interessiert. Die meisten wollen unterstützen und hoffen, dass, wenn wir mit ihnen am Tisch sitzen, wir den „Kuchen gemeinsam größer“ machen können. Ich denke, dass das der richtige Ansatz ist. Politische Bildung profitiert davon, wenn sich mehr Menschen einbringen. Die bisherige Zusammenarbeit haben wir meist kollegial und auf Augenhöhe wahrgenommen, ohne dass die Unterschiede mit Blick auf Ressourcen und Strukturen ausgeblendet wurden.

 

FpB: Wie können Sie von Politik, Fördermittelgebern oder Wissenschaft unterstützt werden?

YS: Muslimisch getragene Bildungsarbeit ist ein neues Feld. Von wissenschaftlicher Seite kann uns deshalb geholfen werden, wenn sie unsere Arbeit mit Forschung begleitet. Wir haben bisher wenig Wissen über bestehende Strukturen von muslimischen Bildungsträgern, es gibt sehr wenig Publikationen oder Veröffentlichungen. Forschung würde uns dabei helfen, Wissensbestände aufzubauen, auf die wir zurückgreifen können. In einem dynamischen Feld wie dem unseren ist das wirklich wichtig.

Von Seiten der Politik und deren Förderstrukturen bedarf es der Bereitschaft, gewisse Wege neu zu denken. Wir brauchen eine Verantwortungsübernahme von beiden Seiten, ähnlich wie damals, als die Bundesregierung den mutigen Schritt ging und islamische Theologie an den Universitäten etablierte – mit Erfolg! Die nächsten zehn Jahre sollten deshalb unter dem Zeichen der Förderung und Etablierung von Orten der Demokratieförderung in muslimischer Trägerschaft stehen.

Aktuell stehen wir mit der Muslimischen Akademie in Heidelberg vor einem Bauvorhaben, mit dem wir international ein Vorbild sein könnten. Die Frage ist, ob es gelingt die entsprechende Finanzierung von Bund und Land hierfür zu bekommen.  

 

FpB: Wie sieht politische Bildung in muslimischer Trägerschaft in Deutschland im Jahr 2033 aus?

YS: Meine Hoffnung ist, dass wir bis dahin einige muslimische oder islamische Akademien mit hauptamtlichen Strukturen im Bundesgebiet haben, die als Kooperationspartner und Diskursräume etabliert sind. Es wäre schön, wenn wir bis 2033 ganz neue Beispiele und Einrichtungen, aber auch neue Perspektiven mit Blick auf plurales Zusammenleben in unserer Gesellschaft entwickeln konnten.

 

FpB: Vielen Dank für das Gespräch!

 

Veröffentlicht am 31.03.2023

 

 



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