„Durch die Träger der Jugendberufshilfe bekamen wir Zugang zu ‚bildungsfernen‘ Jugendlichen.“ Interview mit Verena Reichmann, aktuelles forum e. V.
Verena Reichmann ist Bildungsreferentin beim aktuellen forum e. V. Sie war pädagogische Mitarbeiterin im Projekt „young workers for europe“. Im Projekt nahmen Jugendliche und junge Erwachsene, die sich in berufsvorbereitenden Maßnahmen oder einer außerbetrieblichen Berufsausbildung befanden, an Handwerkseinsätzen im Ausland teil. Im Interview hat Sie uns erzählt, wie „bildungsferne“ junge Erwachsene für das Projekt erreicht wurden und welche Rolle politische Bildungsarbeit dabei spielte.
Verena Reichmann ist Bildungsreferentin beim aktuellen forum e. V. Sie war pädagogische Mitarbeiterin im Projekt „young workers for europe“. Im Projekt nahmen Jugendliche und junge Erwachsene, die sich in berufsvorbereitenden Maßnahmen oder einer außerbetrieblichen Berufsausbildung befanden, an Handwerkseinsätzen im Ausland teil. Im Interview hat Sie uns erzählt, wie „bildungsferne“ junge Erwachsene für das Projekt erreicht wurden und welche Rolle politische Bildungsarbeit dabei spielte.
Transferstelle politische Bildung: An welche Zielgruppe richtet sich das Projekt „young workers for europe“ und wie haben Sie diese erreicht?
Verena Reichmann: Das Projekt richtete sich an junge Erwachsene zwischen 16 und 25 Jahren, die im Übergang von der Schule in den Beruf waren. Genauer gesagt an Jugendliche, die sich in einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme, einer außerbetrieblichen Ausbildung oder in anderen Qualifizierungsmaßnahmen der Jugendberufshilfe befanden. Um diese zu erreichen haben wir mit Trägern der Jugendberufshilfe und der Jugendsozialarbeit in Nordrhein-Westfalen zusammengearbeitet.
TpB: Wie wurden die Jugendlichen ausgewählt?
VR: Bei den Trägern der Jugendberufshilfe haben wir vor Ort zunächst Informationsveranstaltungen für die Jugendlichen durchgeführt. Da die Träger der Jugendberufshilfe später auch an den internationalen Projekten beteiligt waren, kümmerten sie sich anschließend um die Bewerbungsverfahren und die Auswahl der Teilnehmenden. Gemeinsam mit den Jugendlichen überlegten die Träger, wer teilnehmen kann. Die Entscheidung, wer dann tatsächlich mit ins Ausland zu den Handwerksprojekten fahren kann, trafen die Träger während der folgenden Vorbereitungsmodule.
TpB: Welche Bedeutung hatte die Kooperation mit den Trägern der Jugendberufshilfe?
VR: Wenn man ein Projekt für „bildungsferne“ junge Menschen macht, reicht es nicht, das Angebot einfach auszuschreiben und im klassischen Sinne zu bewerben. Die Träger sind dabei sehr wichtig für uns, weil wir über sie den Zugang zu den „bildungsfernen“ Jugendlichen bekommen. Daher haben wir unsere Zusammenarbeit mit den Trägern der Jugendberufshilfe weiter ausgebaut. Die Träger haben außerdem zusammen mit dem aktuellen forum die Projektbegleitung mit jeweils einem Handwerksmeister oder Handwerksmeisterin und einer pädagogischen Fachkraft vor Ort im Ausland übernommen.
TpB: Welche politische Dimension hatte das Projekt?
VR: Das Projekt „young workers for europe“ wurde über das Bundesprogramm XENOS finanziert, das integrierte Aktivitäten gegen Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus in arbeitsmarktbezogenen Maßnahmen an der Schnittstelle zwischen (Berufs-)Schule, Ausbildung und Arbeitswelt fördert.
Schon durch die Leit- und Förderrichtlinien des XENOS-Programms hat das Projekt einen politischen und bildenden Auftrag. Wir wollten jungen Menschen in einem an ihrer Lebenswelt orientierten Format ermöglichen, Gemeinschaft und gegenseitige Verantwortung zu erleben. Sie sollten die Erfahrung machen können, Projekte partizipativ mitzugestalten, ihre Fähigkeiten einzubringen, Europa kennenzulernen und sich mit der gemeinsamen Geschichte und politischen Themen auseinanderzusetzen.
TpB: Welche Rolle spielte politische Bildung in den Handwerksprojekten?
VR: Wir haben mit den Jugendlichen Projekte an verschiedenen europäischen Erinnerungsorten durchgeführt. In Griechenland haben sie eine Gedenkstätte gebaut, an einer alten Synagoge Renovierungsarbeiten vorgenommen oder einen jüdischen Friedhof gereinigt. Durch die Arbeit in einer Gedenkstätte in einem slowakischen Dorf konnten die Jugendlichen erleben, dass nicht alle Orte nach dem zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut wurden. In einem weiteren Projekt wurde die Verfolgungsgeschichte und die gegenwärtige Lebenssituation der Sinti und Roma in Rumänien aufgegriffen. In einem Dorf mit 80 Prozent Roma-Anteil wurden Unterstellplätze für Mülltonnen gebaut, weil es keine Müllentsorgung gab. In Zusammenarbeit mit der Peter Maffay Stiftung wurden Gespräche mit dem Bürgermeister geführt, damit die Mülltonnen auch einmal in der Woche geleert werden. Die Jugendlichen haben dadurch ganz andere Lebensumstände erlebt und konnten ein Bewusstsein für die Gründe entwickeln, warum Menschen in andere Länder flüchten.
Im Vorfeld wurden sie für die spezifische Thematik des jeweiligen Erinnerungsortes sensibilisiert. Es gab Vorbereitungsseminare zu den jeweiligen Ländern, in denen auch die Verbindung zwischen der deutschen und der Geschichte des Gastlandes thematisiert wurde. Wir haben die Jugendlichen dabei als sehr offen erlebt, sich auch mit der politischen Situation des jeweiligen Landes zu beschäftigen.
TpB: Welche Erkenntnisse hat das aktuelle forum aus dem Projekt mitgenommen?
VR: Im ganzen Projekt hat sich gezeigt, dass politische Bildung mehr vermitteln kann als politisches Wissen. Es wurden Handlungskompetenzen und Soft-Skills ermöglicht, soziale Bedingungen des Zusammenlebens erlebt und die Erfahrung der Mobilität vermittelt. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen erhielten Einblick in andere Arbeits-, Lebens- und gesellschaftliche Bedingungen.
Das Projekt wurde wissenschaftlich evaluiert. Die Evaluation hat gezeigt, dass die Teilnehmenden durch die verschiedenen Qualifizierungen im Vorfeld und durch den Auslandsaufenthalt ihre Fähigkeit zum Perspektivwechsel und ihre Kritikfähigkeit ausgebaut haben. Die Jugendlichen zeigten ein lebensweltlich orientiertes Politikverständnis und ein verstärktes Interesse an Ungerechtigkeit im eigenen Umfeld und in der Gesellschaft. Sie wollen ihre eigenen Lebensräume mitgestalten und etwas verändern. Sie suchen nach Sprachrohren, Kommunikationskanälen und Austauschmöglichkeiten, sie wollen über Probleme, Sehnsüchte und Interessen sprechen. Deutlich wurde in unseren Projekten auch, dass sie sich gern für andere einsetzen und sich für eine konkrete soziale Sache engagieren wollten. Sie waren immer sehr stolz darauf, ein soziales Projekt zu unterstützen oder an einem Ort der Erinnerung etwas zu errichten.
TpB: Welche Erkenntnisse haben Sie bezüglich der Zielgruppe für die weitere politische Bildungsarbeit mitgenommen?
VR: Wir haben festgestellt, dass einige Jugendliche gar keinen Geschichtsunterricht in der Schule hatten und wir dies kompensieren mussten. Viele haben uns erzählt, dass sie noch nie bei einer Gedenkstätte waren. Wir haben also erst einmal Interesse für ein Thema geweckt. Weil viele Jugendliche nach dem „young workers“ Projekt den Wunsch äußerten, auch in Deutschland mal eine Gedenkstätte zu besuchen, haben wir mit ihnen das Konzentrationslager Buchenwald besucht.
Insgesamt wurde deutlich, dass die Zielgruppe viel Betreuung und Begleitung braucht. Durch die intensive Vor- und Nachbereitung haben die Projekte dann aber bei den Jugendlichen eine große Wirkung. Die Vor- und Nachbereitung haben wir aufgrund der Evaluationen in den Folgeprojekten noch ausgeweitet.
TpB: Was waren die Gründe dafür?
VR: Im „young workers“ Projekt bestand die Nachbereitung aus einem dreitägigen Seminar. Wir haben festgestellt, dass viele Jugendlichen mit etwas zeitlichem Abstand besser formulieren können, was sie gelernt haben. Daher haben wir in den Folgeprojekten ein paar Wochen nach den ersten Nachbereitungs- und Präsentationstagen mit den Jugendlichen ein weiteres Auswertungsseminar durchgeführt. Dort haben wir dann nochmal ausgewertet, was sie mitgenommen haben, was sich durch das Projekt verändert hat und welche Ziele sie jetzt für ihren weiteren beruflichen Werdegang haben.
TpB: Wie kam die intensivere Nachbereitung an?
VR: Die Jugendlichen haben das sehr gut angenommen. Auch die Träger der Jugendberufshilfe fanden es ziemlich gut, dass wir noch einmal intensiver nachbereitet haben, weil die Jugendlichen dann genauer reflektieren konnten, was das Erlebte für sie für Wirkungen hat.
TpB: Inwiefern wurde die Vorbereitung aufgrund der Evaluation in den Folgeprojekten verändert?
VR: Wir haben in den Vorbereitungsmodulen zum Beispiel das interkulturelle Kompetenztraining sowie das Team- und Konflikttraining ausgeweitet.
Außerdem haben wir im Vorfeld mehr Gespräche geführt. Zum Beispiel haben wir mit dem Träger der Jugendberufshilfe vorab intensiver geschaut, was die Jugendliche brauchen. Auch die Vorbereitungsreisen des betreuenden Personals haben an Bedeutung gewonnen.
Ein weiteres Ergebnis der Evaluation war, dass den Jugendlichen im „young workers“ Projekt der Austausch mit anderen Jugendlichen vor Ort fehlte. Daher haben wir in den Folgeprojekten auch einen Schwerpunkt auf Jugendbegegnungen eingebaut. Die Jugendlichen haben mit Jugendlichen aus dem Gastland zusammengearbeitet und auch die Gruppe aus dem Gastland wurde auf diese Zusammenarbeit vorbereitet.
TpB: Was waren die Gründe, das Projekt „young workers for europe” evaluieren zu lassen?
VR: Wir wollten überprüfen, ob wir unsere Ziele erreichen und ein Feedback von wissenschaftlicher Seite bekommen. Wir wollten wissen, wie das Projekt wirkt und wie wir es weiterentwickeln können.
Außerdem gibt es bisher zu internationalen Projekten mit unserer Zielgruppe kaum wissenschaftliche Untersuchungen. Wir finden, dass man sich durch einen solchen Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis unterstützen kann. Daher wollten wir der Wissenschaft ein praktisches Beispiel zur Verfügung stellen und für die Fachwelt sowie die Politik vorzeigbare Ergebnisse gewinnen.
TpB: Wie verlief die Zusammenarbeit mit der Wissenschaft und was ist für eine gute Zusammenarbeit hilfreich?
VR: Die Zusammenarbeit war sehr gut und gegenseitig unterstützend. Da wir eine Zielgruppe erreicht haben, zu der viele andere Träger keinen Zugang haben, war das Interesse auf Seiten der Wissenschaft groß.
Für die quantitative Evaluation haben wir zum Beispiel gemeinsam Fragebögen für die Teilnehmenden entwickelt. Hilfreich war, dass die Wissenschaft uns eine Software empfohlen hat, mit denen wir die Antworten digital übertragen konnten. Das hat dann natürlich auch die Auswertungen für die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen vereinfacht. Die Fachhochschule in Köln hat uns außerdem regelmäßig über Zwischenstände informiert und wir haben Gespräche zu den Auswertungsdaten geführt.
Wichtig ist ein gegenseitiges Verständnis und Wertschätzung für die jeweils unterschiedliche Herangehensweise und Zielsetzung. Auch Transparenz und regelmäßige Rücksprachen sind wichtig.
TpB: Welchen Einfluss hatten das Projekt und die Evaluation auf die Arbeit des aktuellen forums über das Projekt hinaus?
VR: Das Projekt hat unsere Kompetenzen hinsichtlich dieser Zielgruppe deutlich erweitert. Ein weiteres Projekt, das die gewonnenen Erkenntnisse aufgreift, ging gerade an den Start. Es heißt „young workers for romania“.
Aufgrund unserer Erfahrungen und Kompetenzen hat uns das Land Nordrhein-Westfalen den Auftrag gegeben, die Internationale Jugendarbeit für „benachteiligte“ junge Menschen weiterzuentwickeln. Dafür hat das aktuelle forum die Servicestelle NRW: Für mehr internationale Jugendarbeit eingerichtet. Außerdem haben wir die Federführung für eine Arbeitsgruppe „International mobil zum Beruf“ übernommen und führen bundesweite Werkstattgespräche zum Thema „Internationale Mobilität am Übergang“.
November 2016
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