„Aufsuchende Beratung funktioniert immer.“ Interview mit Rainer Rißmayer

Rainer Rißmayer ist Leiter des Fachbereichs Beratung im Nell-Breuning-Haus und hat dort das Projekt „Weiterbildungsberatung im sozialräumlichen Umfeld“ im Rahmen des von Prof. Dr. Helmut Bremer von der Universität Duisburg Essen wissenschaftlich begleiteten Vorhabens zum Thema „Weiterbildung und Weiterbildungsberatung für ‚Bildungsferne‘“ geleitet.


Rainer Rißmayer

Rainer Rißmayer

Rainer Rißmayer ist Leiter des Fachbereichs Beratung im Nell-Breuning-Haus und hat dort das Projekt „Weiterbildungsberatung im sozialräumlichen Umfeld“ im Rahmen des von Prof. Dr. Helmut Bremer von der Universität Duisburg Essen wissenschaftlich begleiteten Vorhabens zum Thema „Weiterbildung und Weiterbildungsberatung für ‚Bildungsferne‘“ geleitet. (Weitere Informationen zum Gesamtvorhaben finden Sie unterhalb des Interviews.)

 

Transferstelle politische Bildung: Was waren die Gründe für eine Beteiligung des Nell-Breuning-Hauses an dem wissenschaftlich begleiteten Projekt „Weiterbildungsberatung im sozialräumlichen Umfeld“ und welche Zielgruppe haben Sie darin in den Fokus genommen?

Rainer Rißmayer: Das Nell-Breuning-Haus beschäftigt sich seit 25 Jahren mit Menschen in Arbeitslosigkeit oder prekären Arbeitsverhältnissen. Wir und unsere Kooperationspartner kommen aber immer wieder an unsere Grenzen, diese Menschen mit unseren Weiterbildungsangeboten zu erreichen. Menschen, die die Arbeitslosenberatung im Netzwerk der Katholischen Arbeiterbewegung (KAB) in Anspruch nehmen, schaffen es noch lange nicht in das Bildungswerk der KAB oder zu uns ins Nell-Breuning-Haus, obwohl es relativ passgenaue Angebote gibt, z. B. zum Thema Verbraucherschutz oder Schuldenreduzierung. Auch für unsere Angebote in der politischen Bildung suchen wir nach besseren Zugängen zu ‚bildungsfernen‘ Zielgruppen. Das Projekt „Weiterbildungsberatung im sozialräumlichen Umfeld“ war deswegen sehr interessant für uns, um genau dort genauer hinzuschauen und neue Zugangsmöglichkeiten zu finden und auszuprobieren.

TpB: Mit welchen Maßnahmen haben Sie in den wissenschaftlich begleiteten Projekten gearbeitet?

RR: Wir haben zunächst Kursleiter und Kursleiterinnen befragt, Transfergespräche geführt oder kleine Workshops bei uns in der Region durchgeführt.

TpB: Worum ging es bei den Transfergesprächen und wer war daran beteiligt?

RR: Die Transfergespräche haben wir zusammen mit dem Evangelischen Zentrum für Familienbildung umgesetzt. Dabei ging es zum einen um den Wissenstransfer bisheriger Modelle von aufsuchender Bildungsberatung innerhalb der Projektbeteiligten des Gesamtvorhabens „Weiterbildung und Weiterbildungsberatung für ‚Bildungsferne‘“ und darüber hinaus. Außerdem ging es auch um den Austausch zwischen den Weiterbildungsträgern der Städteregion Aachen, z. B. die Volkshochschule und die Bischöfliche Akademie des Bistums Aachen, und den Menschen, die mit beratender Kompetenz bei der Zielgruppe schon aktiv vor Ort sind, z. B. Vertretungen von Familienberatungsstellen, dem Sozialamt oder der sozialpädagogischen Familienhilfe des Jugendamts. Wir haben festgestellt, dass der Transfer an dieser Schnittstelle sehr wichtig und gut ist. Als Weiterbildungsträger suchen wir den Zugang zur Zielgruppe. Und die Menschen, die den Zugang zur Zielgruppe haben, suchen häufig ein Angebot für diese. Dabei geht es nicht immer nur um Weiterbildung, sondern auch darum, wieder am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Seit dem Projektende haben wir leider an diesen Transfergesprächen nicht mehr teilgenommen, da wir etwas außerhalb der Stadt Aachen sitzen, aber ich glaube, dass in Aachen diese Transfersgespräche immer noch stattfinden.

TpB: Welche Maßnahmen haben Sie noch durchgeführt?

RR: Eine Maßnahme, war die Sensibilisierung und Qualifizierung von denjenigen, die in den Arbeitslosenprojekten im Auftrag des Jobcenters tätig sind sowie den Mitarbeitern, die in Arbeitslosen-Beratungscentern der Katholischen Arbeiterbewegung arbeiten. Unser Ziel war es, dass ein Job-Coach dafür sensibilisiert wird, dass er nicht nur Arbeitsvermittler, sondern auch Bildungscoach ist. Nach einer Arbeitslosigkeit von fünf Jahren reicht es nämlich nicht, eine Stelle zu vermitteln. Lebensbegleitendes Lernen und Qualifizierung im Job sind wichtige Bausteine von Berufstätigkeit – das gilt es zu vermitteln und das war vorher nicht sehr präsent.

TpB: Welche Erfahrung haben Sie mit und ohne „Brückenmenschen“ gemacht?

RR: Wir haben insgesamt drei Veranstaltungen ohne „Brückenmenschen“ gemacht, bei denen wir die Zielgruppe direkt zum Dialog eingeladen haben. Das war aber deutlich weniger erfolgreich. Wir haben z. B. eine Bildungswoche zum Thema Europa angeboten als Vorbereitung auf die Europawahl. Wir haben versucht eine passgenaue Einladung zu machen und das Angebot dann ganz gezielt an Arbeitslose und prekär Beschäftigte gerichtet und nicht öffentlich ausgeschrieben. Aber wir hatten nicht genügend Teilnehmende und konnten es nicht umsetzen. Anscheinend ist selbst dann, wenn man zielgerichtet wirbt, die Hemmschwelle noch zu groß. Wir haben dasselbe Angebot dann nochmal an die „Brückenmenschen“, also die Job-Coaches und Sozialpädagogen in Arbeitslosenmaßnahmen gegeben und auch die Kolleginnen und Kollegen der Arbeitslosenberatung der Katholischen Arbeiterbewegung mit eingebunden und so konnte die Woche im zweiten Anlauf stattfinden. Die Quintessenz ist ganz klar: Die „Brückenmenschen“ sind die wichtigste Schnittstelle.

TpB: Was machen sie heute anders, um bisher wenig erreichte Adressat_innen zu erreichen?

RR: Zum einen nutzen wir die „Brückenmenschen“ wie die Job-Coaches ganz gezielt, um für bestehende Formate, wie z. B. politische Bildungswochen zum Thema 1. Weltkrieg oder unser Format „Bildung und Fahrrad“, anders zu werben. Wir fragen sie, ob sie nicht Personen in ihren Bildungsmaßnahmen haben, die unser Angebot interessieren würde. Und sie schauen dann, dass diese sich vielleicht auch zu dritt oder zu viert als Gruppe beteiligen, wenn andernfalls die Hemmschwelle zu groß ist. Das hat jetzt ein paar Mal wirklich gut geklappt. Wir konnten so auch andere Menschen erreichen, was zu einer vielfältigeren Teilnehmerstruktur geführt hat.

Zum anderen haben wir neue Formate entwickelt, die nur für eine bestimmte Zielgruppe, z. B. in einer Maßnahme des Jobcenters, angeboten werden. Wir bieten also unsere Angebote jetzt viel zielgerichteter für verschiedene Projekte und Maßnahmen an, sodass sie an diese direkt andocken. Z. B. war der Zulauf zu unseren Wochenendformaten und Schulungen für Alleinerziehende bisher nicht sehr groß, auch nicht, wenn wir sie in Kooperation mit anderen Familien- und Bildungseinrichtungen beworben haben. Solche Angebote passen häufig nicht in den normalen Kontext einer Maßnahme des Jobcenters. Aber wir als Bildungsträger bieten ein Format, in dem wir Alleinerziehenden Raum für Zukunftsvisionen und die Auseinandersetzung mit dem, was politisch gerade passiert, bieten. Was wir jetzt anders machen ist, dass wir solche Formate bei einem anderen Träger durchführen, bei dem wir wissen, dass es dort eine Maßnahme des Jobcenters für Alleinerziehende gibt, wo wir dieses Format in dieser Gruppe bewerben können und damit auch einen direkten Zugang haben.

TpB: Welche Erkenntnis nehmen Sie noch aus dem Projekt mit?

RR: Wir haben festgestellt, dass wir z. B. Menschen mit Schuldenproblematik nicht einfach damit erreichen, einen Kurs oder Beratung in der Verbraucherzentrale anzubieten und ihnen zu sagen, sie sollen dort mal hingehen. Mit aufsuchender Beratung dagegen funktionierte es immer. Wir bieten z. B. einen Kurs im Rahmen der Beschäftigungsinitiative „50 plus“ an. Die Job-Coaches haben bei den über 50-jährigen festgestellt, dass häufig eine Schuldenproblematik vorliegt, aber die Angebote der Verbraucherzentrale nie in Anspruch genommen wurden. Wir haben dann im Rahmen des wissenschaftlich begleiteten Projekts eine Mitarbeiterin der Verbraucherzentrale eingeladen. Sie hat über das Angebot informiert und wer danach Bedarf hatte, konnte mit ihr noch ein Einzelgespräch führen. Inzwischen ist das ein fester Programmbaustein des Kurses, der über drei Monate geht. Die Mitarbeiterin der Verbraucherzentrale ist an zwei Terminen pro Durchlauf fest eingeplant. Wir waren überrascht über den Erfolg. Wir müssen Bildung und Beratung dorthin bringen, wo die Menschen schon sind.

TpB: Welche Auswirkung hatten die wissenschaftlich begleiteten Projekte auf Ihre Einrichtung?

RR: Durch die Gesamtheit der Projekte haben wir eine andere Sensibilisierung aller Mitarbeitenden für das Thema ‚Bildungsferne‘ erreicht. Das spiegelt sich an vielen Stellen wieder. Wenn ich heute Gespräche mit neuen Mitarbeitern führe, die im Projektkontext, z. B. in Maßnahmen des Jobcenters, eingesetzt werden, lege ich sehr viel Wert darauf, Themen wie Bildungsgerechtigkeit und Bildungschancen mitzudiskutieren. Auch konzeptionell werden diese Themen jetzt in Programme aufgenommen.

TpB: Wie konnten Sie diese Sensibilisierung erreichen?

RR: Auf der Ebene der Fachbereichsleitungen haben wir uns viel ausgetauscht, u. a. über die Beteiligungsstrukturen im Projekt. Insgesamt waren in dem Projekt viele verschiedene Fachbereiche eingebunden, nicht nur die Leitungsebene. Ebenso war die Arbeit an unserem Baustein für den Abschlussbericht sehr hilfreich, weil wir uns nochmal einen ganzen Tag intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt und diskutiert haben.

TpB: Was war die größte Herausforderung im Projekt?

RR: Eine große Herausforderung im Projektverlauf war es, immer wieder Leute zu mobilisieren an Befragungen oder Kursen teilzunehmen. Wir haben festgestellt, dass sich anscheinend bei unserer Zielgruppe eine vielleicht lebenslange Distanz zu institutioneller Bildung manifestiert hat. Ich habe im Vorfeld oft nicht geglaubt, mit welchen Widerständen man bei Menschen in Arbeitslosigkeit oder prekären Arbeitsverhältnissen gegenüber Bildung rechnen muss. Da sind teilweise extreme Schulstereotypen und Ängste vor Bildung vorhanden, das war schon herausfordernd.

TpB: Wie verlief die Zusammenarbeit mit der Wissenschaft?

RR: Für mich war das eine sehr positive Erfahrung. Es war für uns hilfreich, dass die wissenschaftliche Mitarbeiterin Farina Wagner drei oder vier Mal bei uns vor Ort war, mit zu den Veranstaltungen gegangen ist, Module begleitet und sie vor Ort evaluiert hat. Wir haben uns also nicht erst am Ende des Projekts zusammengesetzt und es ausgewertet. Einmal im Quartal hat sich außerdem die ganze Projektgruppe mit Prof. Dr. Bremer zum Austausch getroffen.

TpB: Was ist für eine gute Zusammenarbeit zwischen Praxis und Wissenschaft notwendig?

RR: Ich glaube, dass man bedenken sollte, dass manche Erkenntnisse und Empfehlungen allgemeingültiger und übertragbarer sind als andere, das sollte klar getrennt werden. Das was wir bezüglich aufsuchender Beratung und Sensibilisierung der Job-Coaches festgestellt haben und ganz allgemein, dass „Brückenmenschen“ eine ganz wichtige Funktion übernehmen können, ist durchaus übertragbar. Die Ängste, die diese Menschen haben, sind ebenfalls nichts regional Spezifisches. Beim Transfer von der Wissenschaft in die Praxis muss aber darauf geachtet werden, dass nicht alles was in Herford angewendet wird, auch für Aachen gut sein muss und anders herum. Man sollte ganz genau schauen, inwiefern Schlussfolgerungen im Sinne von Handlungsempfehlungen vor Ort sinnvoll sind oder nicht.

TpB: Was ist für Sie im Bereich Weiterbildungsberatung ein wichtiger nächster Schritt?

RR: Es bleibt natürlich am Ende der Wunsch, dass das, was wir hier im Bereich Weiterbildungsberatung gemacht haben, politisch auch gehört wird, dass gesehen wird, welcher Bedarf besteht. Es hilft nichts, wenn die Strukturen zwar gut beforscht sind, die Politik den Bedarf aber nicht wahrnimmt und im Weiterbildungsetat nicht mitdenkt. Bildungsberatung und aufsuchende Bildungsarbeit kann ich nicht in Teilnehmertagen darstellen. Und insbesondere wenn es der Auftrag ist, die ‚bildungsferne‘ Zielgruppe zu erreichen, müssen auch entsprechende Formate finanzierbar sein. Man kann das nicht verkürzen auf eine Abrechnung nach Teilnehmertagen, so wie es unser Weiterbildungsgesetz momentan vorsieht. Ich hoffe, dass solche Studien und Ergebnisse auch dazu führen, dass Politik diese wichtige aufsuchende Bildungsberatung und Bildungsarbeit im Quartier ermöglicht.

(Juni 2016)

 

Über das Projekt

Das Gesamtvorhaben »Weiterbildung und Weiterbildungsberatung für 'Bildungsferne'« setzte sich aus insgesamt dreier aufeinander aufbauender Projekten zusammen:

  • „Das Projekt »Potenziale der Weiterbildung durch den Zugang zu sozialen Gruppen entwickeln« (kurz: »Potenziale I«; Laufzeit: 01.01.2009 bis 31.12.2009) zielte darauf, neue, bisher nicht oder kaum erreichte Menschen für Weiterbildung zu gewinnen.
    Projektbeschreibung und Abschlussbericht
  • Im Projekt »Bildungsferne – ferne Bildung: Transferprojekt neue Potenziale für die Weiterbildung» (kurz: »Potenziale II«; Laufzeit: 15.05.2010 bis 31.12.2010) ging es vornehmlich darum die Ergebnisse aus »Potenziale I« in die Breite zu tragen.
    Abschlussbericht
    [ PDF | 295 KB ]
  • Zentrales Anliegen des Projekts »Weiterbildungsberatung im sozialräumlichen Umfeld« (kurz: »WisU«; Laufzeit: 01.10.2012 bis 28.02.2014) war es, Möglichkeiten von Bildungsberatung für 'bildungsferne' Zielgruppen auszuloten und entsprechende Konzepte zu entwickeln. Projektbeschreibung Abschlussbericht, Workshop- und Abschlusstagungssbericht (LAAW)

Alle Projekte wurden vom Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NRW gefördert.“

(Auszug aus: Bremer, Helmut/Kleemann-Göhring Mark/Wagner, Farina (2015): Weiterbildung und Weiterbildungsberatung für „Bildungsferne“. Ergebnisse, Erfahrungen und theoretische Einordnungen aus der wissenschaftlichen Begleitung von Praxisprojekten in NRW, Bielefeld, S. 9.)

 

Projektträger: Landesverband der Volkshochschulen von Nordrhein-Westfalen e.V. , Landesarbeitsgemeinschaft für katholische Erwachsenen- und Familienbildung e.V., Landesorganisation für evangelische Erwachsenenbildung in Nordrhein-Westfalen, Landesarbeitsgemeinschaft für eine andere Weiterbildung (LAAW) NRW e.V.

 

Projektstandorte: Volkshochschule im Kreis Herford, AKE-Bildungswerk e.V. in Vlotho, Evangelisches Erwachsenenbildungswerk und evangelische Familienbildungsstätte, Zentrum für Familien in Aachen, Nell-Breuning-Haus in Herzogenrath

 

Weiterlesen

  • „Die Finanzierung der Einrichtungen muss auf einen angemessenen Stand gebracht werden.“ Interview mit Friedhelm Jostmeier von der LAAW mehr
  • „Die Integration von 'Bildungsfernen' ist für uns inzwischen eine Querschnittsaufgabe.“ Interview mit Monika Schwidde und Helga Lütkefend von der VHS im Kreis Herford'. mehr
  • „Netzwerke erleichtern den Zugang zu 'bildungsfernen' Zielgruppen“. Interview mit Prof. Dr. Helmut Bremer, verantwortlich für die wissenschaftliche Begleitung der Projekte zum Thema “Weiterbildung und Weiterbildungsberatung 'bildungsferner' Zielgruppen“ mehr
  • Datenbankeintrag: Bremer, Helmut/Kleemann-Göhring Mark/Wagner, Farina (2015): Weiterbildung und Weiterbildungsberatung für "Bildungsferne". Ergebnisse, Erfahrungen und theoretische Einordnungen aus der wissenschaftlichen Begleitung von Praxisprojekten in NRW, Bielefeld (174 S.). mehr


Bereich:

Gehe zu:Transferstelle