„Politische Bildung muss für Ausschlussmechanismen sensibel sein.“ Interview mit Natalie Pape zu Literalität und politische Bildung

Natalie Pape ist Sozialwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Erwachsenenbildung / Politische Bildung der Fakultät für Bildungswissenschaften an der Universität Duisburg-Essen. Wir haben mit ihr über ihre Dissertation zur Alltags- und Handlungsrelevanz von Schriftsprache für funktionale Analphabet_innen gesprochen, deren Verhältnis zur Politik und was die politische Bildung tun sollte, um diese Menschen zu erreichen.


Natalie Pape (Foto: privat)

Natalie Pape (Foto: privat)

Natalie Pape ist Sozialwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Erwachsenenbildung / Politische Bildung der Fakultät für Bildungswissenschaften an der Universität Duisburg-Essen. Wir haben mit ihr über ihre Dissertation zur Alltags- und Handlungsrelevanz von Schriftsprache für funktionale Analphabet_innen gesprochen, deren Verhältnis zur Politik und was die politische Bildung tun sollte, um diese Menschen zu erreichen.

 

Transferstelle politische Bildung: Frau Pape, Sie haben über habitus- und milieuspezifische Zugänge zu Literalität, also zu Lese- und Schreibkompetenz, geforscht. Worum ging es dabei?

Natalie Pape: In meiner Dissertation habe ich untersucht, wie Teilnehmende an Alphabetisierungskursen mit Schriftsprache im Alltag umgehen. Studien wie die LEO-Studie (leo. – Level-One Studie) und die PIAAC-Studie (Programme for the International Assessment of Adult Competencies) haben das erste Mal repräsentative Befunde zu Grundbildungsbedarfen in der Bevölkerung geliefert und deutlich gemacht, dass geringe Lese- und Schreibkompetenzen unter Erwachsenen kein Randphänomen sind. Die LEO-Studie hat gezeigt, dass hierzulande fast doppelt so viele Menschen als funktionale Analphabet_innen gelten können, als bisher angenommen. Anstatt 4 sind es 7,5 Millionen. Das sind ca. 15 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren, also eine hohe Zahl.

TpB: Was genau hat Ihre Studie fokussiert?

NP: Ich habe die Alltags- und Handlungsrelevanz von Schriftsprache für diese Menschen untersucht. Anlass war die Feststellung, dass wir einerseits in großen Teilen der Bevölkerung geringe „gemessene“ Lese- und Schreibkompetenzen haben, andererseits besuchen aber weniger als ein Prozent von ihnen einen Alphabetisierungskurs. Das ist erklärungswürdig. Außerdem gibt es insgesamt wenig Forschung dazu, wie der Umgang mit Schriftsprache mit „sozialen Logiken“ verknüpft ist. Das war für mich ein Anreiz mit dem Milieukonzept zu arbeiten, weil sich damit besonders gut aufzeigen lässt, wie die Verwendung der Schriftsprache in den Alltag eingebunden ist und dabei zugleich einer sozialen Logik folgt.

Kompetenzorientierte Studien wie LEO oder PIAAC verdeutlichen, dass geringe „gemessene“ Kompetenzen besonders mit schichtspezifischen Merkmalen sozialer Benachteiligung einhergehen. Daraus wird dann oft ein pädagogischer oder politischer Handlungsbedarf abgeleitet. Es wird dann immer wieder betont, welch hohe Bedeutung die schriftsprachliche Kompetenz für die gesellschaftliche Teilhabe hat. Wenn man aber stärker die Ebene der Subjekte in den Blick nimmt, was vor allem qualitative Studien tun, dann zeigen sich kreative Strategien der Alltagsbewältigung und ein eigensinniger Umgang mit Schriftsprache. Das heißt, dass diese Menschen nicht zwingend von gesellschaftlicher Exklusion betroffen sind. Diese Studien sagen allerdings meist nur wenig über dahinterliegende soziale Logiken aus. Das Milieukonzept bietet hier vielversprechende neue Erkenntnisse.

TpB: Auf welches Milieukonzept beziehen Sie sich in Ihrer Studie?

NP: Ich habe mit dem Milieumodell von Michael Vester und anderen gearbeitet. Diese beziehen sich auf die Habitustheorie von Pierre Bourdieu. Soziale Milieus sind demnach Gruppen von Menschen mit ähnlicher Lebensführung oder ähnlichem Habitus. In Bezug auf Schriftsprache sind soziale Milieus Orte, in denen die Subjekte bestimmte Erfahrungen mit Lesen und Schreiben machen, eine bestimmte Praxis ausbilden und ähnliche Bewertungsmuster hervorbringen.

Brian Street geht in seinem Konzept Literalität als soziale Praxis von pluralen Lebenswelten und entsprechend pluralen Literalitäten aus. Wenn es nun milieuspezifische Differenzierungen in der Gesellschaft gibt, bedeutet das, dass man auch von pluralen Literalitäten in den Milieus – also milieuspezifisch gefärbten Gebrauchsformen und Vorlieben bei der Anwendung von Schriftsprache – ausgehen kann. Das Modell von Street und den Milieuansatz von Vester und anderen habe ich so miteinander verbunden.

TpB: Wie haben Sie Ihre Studie insgesamt konzipiert?

NP: Mein Dissertationsprojekt war an das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt „Interdependenzen von Schriftsprachkompetenz und Aspekten der Lebensbewältigung“ angeschlossen. Dies war ein Teilprojekt vom Verbundprojekt „Verbleibsstudie zur biographischen Entwicklung ehemaliger Teilnehmer/innen an Alphabetisierungskursen“. Aus der Stichprobe der Interdependenzstudie habe ich für meine Arbeit 36 leitfadengestützte Interviews ausgewertet. Es wurden Personen interviewt, die an Alphabetisierungskursen teilgenommen haben. Die Teilnehmenden wurden zur familiären Sozialisation, zur Schriftsprachverwendung im Lebensverlauf und zu Veränderungen durch die Kursteilnahme befragt, aber auch zu Formen politischer Partizipation und Stellungnahmen zu Politik. Außerdem wurden Lernstandsdiagnosen im Lesen und Schreiben durchgeführt. Die Auswertung der Interviews erfolgte mit dem Verfahren der Habitus-Hermeneutik. Durch eine Voranalyse in der Interdependenzstudie kannte ich die Fälle bereits recht gut. Damals zeichnete sich schon ab, dass es sich um eine milieugeschichtete Stichprobe handelt. Ich habe mir dann Fälle ausgesucht, die im Umgang mit Analphabetismus und wie sie Lesen und Schreiben im Alltag einsetzen, sehr unterschiedlich sind. So habe ich zunächst vier kontrastive Eckfälle habitushermeneutisch analysiert. Am Ende habe ich die restlichen Fälle wieder in die Analyse einbezogen, um dann die Ergebnisse zu fundieren oder zu erweitern.

TpB: Was waren Ihre zentralen Erkenntnisse?

NP: Meine Analyse hat deutlich gemacht, dass die Zugänge zu Schriftsprache milieuspezifisch gefärbt sind. Das kann ich anhand der vier Eckfälle veranschaulichen. Da war zum Beispiel Christa, die einen äußerst schambesetzten Zugang zu Schriftsprache hat. Sie neigt dazu, ihre Lese- und Schreibschwierigkeiten zu verbergen. Sie arbeitet als Politesse und bringt in diesem Beruf ausgeklügelte Geheimhaltungsstrategien hervor, um nicht aufzufallen. Für sie sind geringe Lese- und Schreibkompetenzen ein Makel, den es zu bekämpfen gilt. Sie lehnt sich an legitime Formen von Literalität an und ahmt diese nach, um möglichst mit diesem „Defizit“ nicht aufzufallen. Ihre Literalität habe ich als „angestrengt-ambitioniert“ bezeichnet. Wegen der hohen Bedeutung von Scham und äußerem Ansehen habe ich die Hypothese aufgestellt, dass sie aus dem Traditionellen kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieu nach Vester und anderen stammt. Die Lernstandsdiagnostik macht zwar ihre Fortschritte sichtbar, die hohe Bedeutung von Scham und äußerem Ansehen, die typisch für dieses Milieu ist, macht es ihr jedoch quasi unmöglich an einer Weiterbildung teilzunehmen, obwohl sie hier ein Interesse äußert. Sie möchte zum Beispiel gerne an einem Computerkurs partizipieren, aber traut es sich nicht, obwohl sie in den Lernstandsdiagnosen Erfolge verzeichnen kann.

TpB: Welche weiteren Muster haben Sie herausarbeiten können?

NP: Ein weiterer Fall ist Ulrich. Er geht sehr offen mit seinen Lese- und Schreibschwierigkeiten um, was ebenfalls auf Strategien aus seinem Herkunftsmilieu basiert. Dort ist Bildung zwar nicht ganz unwichtig, geringe Lese- und Schreibkompetenz ist allerdings weniger schambesetzt als bei Christa. Ulrichs Zugang zu Schriftsprache wirkt weitaus entspannter. Ich habe diesen „sachbezogen-pragmatisch“ genannt. Die geringe Lese- und Schreibkompetenz wird verhältnismäßig wenig problematisiert. Ulrich nimmt zum Beispiel an vielen Weiterbildungsveranstaltungen über den Alphabetisierungskurs hinaus teil, obwohl seine „gemessene“ Schriftsprachkompetenz relativ gering ist. Er geht in einen Computer- oder Fotografiekurs und holt sich Hilfe aus seinem sozialen Netzwerk. Er bedient sich damit kollektiven Strategien und hat eine besondere Offenheit gegenüber vielfältigen Angeboten. Das ist typisch für das Traditionelle Arbeitermilieu nach Vester und anderen. Dieses Milieu gibt Raum für so einen eigenwilligen Umgang mit Schriftsprache, der pragmatisch an sinnstiftenden Alltagsinteressen orientiert ist und weniger an Status und Ansehen hängt.

Dann gibt es noch einen dritten Fall, Jana. Hier zeigt sich ein „prätentiös-elaborierter“ Zugang zur Schriftsprache. Jana betont ihr hohes Interesse an Bildung, Schriftsprache und Hochkultur. Das deutet darauf hin, dass sie relativ weit oben im sozialen Raum, im Modernen kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieu, zu verorten ist. Ihr Mann ist Grundschullehrer. Sie verfügt über relativ privilegierte Lebensbedingungen, die ihr Rückzugsstrategien in bedrohlichen Lebenssituationen ermöglichen. Sie kündigt zum Beispiel eine Arbeitsstelle, als sie mit ihrer geringen Schriftsprachkompetenz zu scheitern droht. Im Gegensatz zu den anderen Fällen verspürt sie eine Befugnis mit Schriftsprache umzugehen. Für sie ist das nichts Fremdes, sie ist in einem bildungsnahen Elternhaus aufgewachsen. Sie liest gerne, auch anspruchsvolle Romane, und geht sogar in einen Literaturkreis. Das ist erstaunlich. Obwohl sie relativ geringe Kompetenzen im Lesen hat, kann sie sich aufgrund ihres Habitus und der damit erworbenen Nähe zu kultureller Bildung ein Stück weit darüber hinwegsetzen.

TpB: Was zeichnet den vierten Eckfall aus?

NP: Der vierte Eckfall ist Erwin. Seine Literalität habe ich „gelegenheitsorientierte Literalität“ genannt. Er zeigt eine Ambivalenz im Umgang mit Lesen und Schreiben, weil es ihm vor allem darum geht, mithalten zu können und Anschluss an respektable Kreise der Gesellschaft zu haben. Schriftsprachkompetenz ist für ihn eher ein notwendiges Übel. Er überspielt sein „Defizit“ durch offensive Selbstbehauptung. Man hat den Eindruck, dass er ohne den Kurs kaum mit Schriftsprache in Kontakt kommen würde, sich durch den Kurs aber disziplinieren und lesen und schreiben kann. Er profitiert von dem Kurs, was für sein Selbstbewusstsein wichtig ist. Im Kursbesuch zeigt sich so eine Anlehnungsstrategie, die typisch für das Traditionslose Arbeitnehmermilieu nach Vester und anderen ist, in dem Bildung eher als Zwang empfunden wird. Das ist interessant, weil er mit einem besseren Ergebnis in der Lernstandsdiagnostik abgeschlossen hat als beispielweise Jana, die aber eine hohe Affinität zu Lesen und Schreiben hat.

TpB: Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie daraus?

NP: Durch den Habitus können geringe Kompetenzen teilweise kompensiert werden, wie etwa bei Jana und Ulrich. Der Habitus kann aber auch trotz Lernfortschritten oder entsprechender Kompetenz benachteiligend oder hemmend auf die literale Praxis wirken, wie zum Beispiel bei Christa und Erwin. Im Fall von Erwin provoziert der Habitus eine Abhängigkeit zum Alphabetisierungskurs. Anlehnungsstrategien wie bei Erwin finden sich vor allem bei Teilnehmenden aus unterprivilegierten Milieus mit besonders komplexen Problemlagen. Dies ist kein seltenes Phänomen. Mit einer Kursbesuchsdauer von rund 10 Jahren ist Erwin kein Einzelfall in der Stichprobe.

Die vorgestellten Fälle zeigen vor allem die Spannweite der Heterogenität. Das Gesamtbild macht dann aber auch deutlich, dass es sich bei den Teilnehmenden um eine Gruppe mit begrenzter Vielfalt handelt und Lese- und Schreibschwierigkeiten im Erwachsenenalter mit sozialen Benachteiligungen einhergehen. Die Einstellung zur Schriftsprache hat man bereits in der Kindheit erworben und sie ist auch im Erwachsenenalter noch präsent und handlungsleitend.

TpB: Haben Sie hierfür ein Beispiel?

NP: Ja, das zeigt sich zum Beispiel bei Christa. Christas Mutter, die ebenfalls Lese- und Schreibschwierigkeiten hatte, war es peinlich, dass ihre Tochter die Förderschule besuchte. Es gab im Herkunftsmilieu die Tendenz, das zu verbergen und nicht in Bildung zu investieren. Bei Christa ist das ähnlich, sie reproduziert diese Geheimhaltungsstrategie. Interessanterweise will sie das aber bei ihren Kindern anders machen. Mit denen liest und schreibt sie und hilft ihnen bei den Hausaufgaben, stößt mit ihren Kompetenzen hier aber an eine Grenze, was sie schließlich in den Alphabetisierungskurs führt.
Damit komme ich zu einem weiteren zentralen Ergebnis meiner Arbeit. Durch geringe Schriftsprachkompetenz entsteht etwas, was ich als „Habitus-Milieu-Diskrepanz“ bezeichne. Aufgrund der geringen Schriftsprachkompetenz kann der angestrebten milieuspezifischen Praxis nicht ungehindert nachgegangen werden. Dadurch erscheint die Zugehörigkeit zum eigenen Milieu oder einem angestrebten Milieu bedroht. Der Kurs stellt in Aussicht, die gewünschte Zugehörigkeit und Passung wieder herzustellen. Das heißt, dass vor allem „Habitus-Milieu-Diskrepanzen“ und nicht allein geringe „gemessene“ Kompetenzen zum Auslöser für die Kursteilnahme werden. Das ist ein wichtiger Mechanismus, wenn wir auf die geringe Teilnahme an Alphabetisierungskursen schauen, die ich anfangs erwähnt habe. Dadurch kann man die Nicht-Teilnahme an den Kursen ein Stück weit mit erklären.

TpB: Welche Ihrer Erkenntnisse sind für die Praxis politischer Bildung relevant?

NP: Auch wenn dies nicht direkt Thema meiner Untersuchung war, habe ich in den Interviews auch nach Formen politischer Partizipation und nach Stellungnahmen zu Politik gefragt. Hier fielen Äußerungen wie „Politik ist nichts für mich“ oder „Politik ist nicht mein Ding“. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass es meist nur ein vordergründiges Desinteresse ist. Die Teilnehmenden verfügen trotz dieser Aussagen über politische Meinungen und Interessen. Das ist insofern spannend, weil meine Untersuchung gezeigt hat, dass nicht nur die Zugänge zu Schriftsprache mit milieuspezifischen Mustern korrespondieren, sondern auch die Formen politischer Partizipation oder Stellungnahmen zu Politik. Bei Ulrich, der sich kollektiver Strategien bedient und dem seine Autonomie wichtig ist, zeigt sich dies auch in der Form politischer Partizipation. Er ist gewerkschaftlich aktiv und nimmt an Streiks für mehr Lohn teil. Bei der Teilnehmerin Jana ist beispielweise interessant, dass sie aufgrund ihrer gehobeneren sozialen Herkunft auch eine Befugnis verspürt, sich mit politischen Themen im engeren Sinne zu befassen. Sie vermittelt im Interview den Eindruck einer politisch interessierten Frau mit einem Anspruch auf Political Correctness. Wenn ich mir die anderen Interviews vergegenwärtige, erscheint ein solcher Anspruch den Alltagsnotwendigkeiten vieler anderer Teilnehmender eher enthoben.

Was ebenfalls auffällig war, ist, dass die Sprache im politischen Feld, wie sie etwa in Zeitungsartikeln oder politischen Diskussionen zum Ausdruck kommt, immer wieder thematisiert wurde. Diese erschwert vielen die Auseinandersetzung mit politischen Themen. Das hat etwas mit den geringen Lese- und Schreibkompetenzen zu tun, aber längst nicht nur. Die etablierte politische Sprache ist vielen fremd und führt dazu, dass sie sich von konkreteren Partizipationsformen ausgeschlossen fühlen. Sicher ist, dass sie durchaus politische Interessen haben und das auch zum Ausdruck bringen. Sie verfügen dann aber nicht über den im politischen Feld geforderten legitimen politischen Stil, der eng an das Beherrschen der Schriftsprache geknüpft ist. Das führt dann oft zum Selbst- und Fremdausschluss vom Politischen im engeren Sinne.

TpB: Welche Empfehlungen können Sie daraus für die Praxis der politischen Bildung geben?

NP: Ich denke, politische Bildung muss für solche Ausschlussmechanismen sensibel sein. Es kann dabei helfen, mit einem weiten Politikbegriff zu arbeiten, um einen adäquaten Umgang mit diesen pluralen politischen Literalitäten einzuüben. Es wird zudem immer wieder kritisiert, dass politische Bildung zu stark auf schriftsprachliche Medien und Vermittlungsformen setzt. Dies gilt es zu überdenken und vielfältigere Angebote zu schaffen.

Außerdem würde ich die Strategien der aufsuchenden Bildungsarbeit verstärken. Es geht um die Gewinnung von Teilnehmenden, in der Alphabetisierung wie in der politischen Bildung. Schlüssel- bzw. Brückenpersonen sind dabei besonders wichtig, um die wechselseitige Distanz abzubauen. Das umfasst aber auch, dass Lehrende ihre Perspektiven auf die Teilnehmenden hinterfragen – Stichwort „Milieusensibilität“ – genauso wie sie auch eigene Literalitäts- und Politikbilder relativieren müssen.

TpB: 2016 haben wir uns vertieft mit dem Thema „Zugangsmöglichkeiten zu wenig erreichten Zielgruppen“ beschäftigt. Hierbei wurde die Zielgruppenfokussierung kritisch diskutiert und es kam die Frage auf, wie offen und inklusiv oder aber wie spezifisch ein Angebot sein muss. Wie spezifisch müssen Ihrer Meinung nach Angebote für funktionale Analphabet_innen sein?

NP: Ich glaube, dass es wichtig ist, zielgruppenspezifische Angebote für funktionale Analphabet_innen zu konzipieren. Das politische Feld ist stark umkämpft und Laien sind von solchen Diskussionen immer eher ausgeschlossen. Es ist aber wichtig, die Frage nach der Heterogenität der Zielgruppe zu stellen. Das ist auch bei funktionalen Analphabet_innen so, auch bei denen kann man nicht von ähnlichen Lernvoraussetzungen oder Zugängen sprechen. Diese unterschiedlichen Strategien und Zugänge gilt es innerhalb einer Zielgruppe zu beachten. Meine Untersuchung hat gezeigt, dass es besonders wichtig ist, die Alltagsbezüge der Teilnehmenden zu berücksichtigen, da „gemessene“ Kompetenzen und Praxis auseinanderfallen können. Themen können aus dem Alltag heraus entstehen. Diese mit Erfahrungen verknüpften Themen kommen dann auch in ihren politischen Meinungen zum Ausdruck, wie zum Beispiel Fragen sozialer Ungerechtigkeit oder Migration. Ich kann mir gut vorstellen, dass man im Grundbildungsbereich solche Themen einbindet. Es ist wichtig, dass man sich in die jeweiligen Lebenswelten hineinversetzt und nicht von einem engen Politikbegriff ausgeht, sondern für differenzierte Zugänge zu Schriftsprache und Politik sensibilisiert ist.

 

veröffentlicht am 5. September 2017

 

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