Als Beitrag zum Dossier „Emotionen und politische Bildung“ hat uns Prof. Dr. Achim Schröder seinen letzten Vortrag zur Verfügung gestellt.

„Emotionalisierung der Politik und Autoritarismus. Herausforderungen für die gegenwärtige politische Bildung“

von Prof. Dr. Achim Schröder

Download des Texts [ PDF | 556 KB ]

 

Im Titel meines Vortrags habe ich die Emotionalisierung der Politik in den Mittelpunkt gestellt. Genauer gesagt, werde ich über die Emotionalisierung des Politischen sprechen, denn es geht mir im Kern weniger um die praktizierte Politik, als um das Bewusstsein der Menschen, ihre Gefühlslage und um die öffentliche Stimmung. In den vergangenen Jahren haben Wut, Hass und Ressentiments zunehmend den öffentlichen Raum bestimmt und rechtspopulistischen Demagogen einen Nährboden geboten. Ganz offensichtlich haben sich im Gefolge gerade diejenigen politisiert, die vorher zur schweigenden Mehrheit zählten, sich an Wahlen bisher nicht beteiligten und sich als Verlierer des politischen Systems empfinden. Aus der Perspektive der herrschenden Politik und auch aus der Perspektive der engagierten Zivilgesellschaft wird die in Social Media, bei Pegida und von der AfD betriebene Emotionalisierung heftig kritisiert und verabscheut. Dem wird der rationale Diskurs (Hendrichs/Vestergaard 2017, 09) als unabdingbares Kriterium für eine deliberative Demokratie, also auf öffentlicher Beratung fußende Demokratie, entgegengestellt. In der Bevölkerung scheinen sich zwei unvereinbare Haltungen gegenüber zu stehen. Auf der einen Seite diejenigen, die ihren Ärger und ihre Ängste herauslassen und einer Diskussion darüber aus dem Wege gehen. Auf der anderen Seite diejenigen, die sich im rationalen Diskurs zu Hause fühlen und nur mit Leuten reden, die sich auch auf diese Ebene einlassen wollen oder können.

 

Ich möchte mit meinem Vortrag keineswegs für die Position der rechtsorientierten Wutbürger werben, ganz im Gegenteil, ich werde deutlich dagegen Stellung beziehen. Aber ich möchte den Blick für die individuellen und kollektiven Emotionen und deren Hintergründe schärfen. Mir scheint, dass wir tief in unserem Denken – eigentlich seit Descartes‘ Diktum „Ich denke also bin ich“ – von der Vorstellung geprägt sind, dass wir die Emotionen beiseitelassen müssen, um zu vernünftigen und tragfähigen politischen Lösungen zu gelangen. Das ist jedoch eine Illusion, die zu Abspaltungen führt und die Ursachen für gesellschaftliche Konflikte verdeckt.

 

Gerade für diejenigen, die sich mit politischer Bildung und den Fragen der Politisierung und Motivierung beschäftigen, ist von erheblichem Interesse, wie Denken und Fühlen miteinander verwoben sind und wie uns ein anderer Einbezug der Emotionen in die Bildungsarbeit gelingen könnte.

 

1. Die jahrelange innere Abwendung von der repräsentativen Demokratie hat sich in jüngster Zeit unerwartete populistische und regressive Ventile gesucht.

 

Repräsentative Politik basiert darauf, dass man mittels Parteien und Wahlen den gewählten Vertreterinnen und Vertretern die Aufgaben zur politischen Interessenvertretung überträgt. Das setzt allerdings voraus, dass man den Amtsträgern einen Vertrauensvorschuss gewährt und ihnen einen Ermessensspielraum zubilligt. Denn sie werden dazu autorisiert, die Entscheidungen für die gesamte Legislaturperiode eigenverantwortlich zu treffen. Diese „vertrauensvolle Autorisierung“ (Koschorke) wurde in den vergangenen Jahrzehnten schleichend und mit dem Erstarken der Rechtspopulisten schubweise aufgekündigt (Koschorke 2017).

 

Die repräsentative Form wird im Unterschied zu den horizontalen Bezügen in sozialen Bewegungen und bürgerschaftlichen Initiativen auch als vertikale Politik bezeichnet (vgl. Tormey 2015, S. 18 f.). In Europa sind „die Mitgliederzahlen der Parteien, im Verhältnis zur Größe der Wählerschaft, von rund 25 bis 30 Prozent in vielen Fällen auf 2 bis 3 Prozent gesunken“ (ebd., S. 33). Das hat verschiedene Auswirkungen. Zum einen wird die Personaldecke der Parteien immer dünner; sie verfügen damit über eine sehr begrenzte Auswahl für ihre Kandidaten. Zum zweiten bestimmen nur noch zwei bis drei Prozent der Bevölkerung über die Programme und Ausrichtungen der Parteien. Und nicht zuletzt befinden sich die Parteien durch diese Situation in einem Teufelskreis, wenn sie angesichts kleiner Mitgliedsgruppen vor Ort kaum noch attraktiv für einen Neuzuwachs sind.

 

Neben diesem mittelfristigen Trend haben in den vergangenen Jahren in vielen Ländern des liberalen Westens vor allem sozialdemokratische Parteien und Regierungen an Zuspruch verloren, weil sie mit ihrer Zuwendung zu neoliberalen Politiken den Schutz der Arbeitnehmer vor dem Zugriff der Märkte und die Gerechtigkeitsfrage in den Hintergrund gedrängt haben. Zwar feierten rechtspopulistische Parteien wie in Österreich bereits in den 1990er Jahren durchgreifende Erfolge und waren ab 1999 an der österreichischen Bundesregierung beteiligt, aber als eine Bedrohung für die Demokratie wurden sie nur bedingt ernst genommen. In Deutschland konnten die aufkeimenden Rechtstendenzen der 1990er von der Zivilgesellschaft großenteils zurückgedrängt werden.

 

Mit dem Jahre 2016 jedoch – dem Brexit und der Trumpwahl – ist die Zeitenwende offensichtlich, in der wir uns befinden. Ein neues Buch aus dem Suhrkamp-Verlag hat unter dem Titel „Die große Regression“ eine internationale Debatte darüber angezettelt, was als weltweite Tendenz angesehen wird: Rechtspopulismus, Verrohung der politischen Kultur und Aufstieg autoritärer Demagogen. In Deutschland sind wir noch etwas verschont von diesem Megatrend, erleben aber erstmals eine rechtsextreme Partei mit über 10% an Zustimmung und ein Sich-Ausbreiten von Hassbotschaften im Internet gegen Fremde und Andersdenkende sowie gegen Journalisten und Politiker.

 

Ein gemeinsames Kennzeichen der rechten Parteien und zugehörigen Stimmungen sind die aggressiven Emotionen, die den Anderen, den Kontrahenten, den Eliten und Vertretern von Subsystemen entgegengeschleudert werden. Wie lässt sich der Hass begrifflich einordnen? Gemäß Carolin Emcke entsteht ein Hass dann, wenn Konflikte besonders heftig und unversöhnlich werden und zu einer inneren nahezu unverrückbaren Haltung werden. Wer bestimmte Menschengruppen hasst, der ist nicht mehr zugänglich für Erklärungen und andere Sichtweisen. Er verschließt sich, lässt nichts Anderes gelten und findet seine Genugtuung nur im Ausagieren seines Hasses (Emcke 2016, 16).

 

2. Die gesellschaftliche Ungleichheit hat deutlich zugenommen und wurde durch „neoliberale Komplizenschaft“ (Nachtwey) abgesichert.

 

Die Einkommensungleichheit hat sich in den ersten Nachkriegsjahrzehnten verringert und ist seit den 1970er Jahren erneut auseinandergedriftet. Das wird von aktuellen empirischen Studien belegt und beispielsweise von Oliver Nachtwey (2016, S. 71 ff.) zusammenfassend dargestellt. In den letzten 25 Jahren verlief die Entwicklung in Deutschland besonders drastisch, wie der herausgebildete Lohnrückstand gegenüber anderen Ländern Europas zeigt. Seit 1992 blieb die Reallohnentwicklung in Deutschland dauerhaft unter der Produktivitätsentwicklung. Würde man heute allein den Rückstand seit 2000 ausgleichen wollen, so müsste man eine Lohnerhöhung von 20% durchsetzen (Die Anstalt 2017).

 

Die neoliberale Ausrichtung der Politik gilt als wesentlich verantwortlich für diese Entwicklung. Der Grundgedanke der neoliberalen Ökonomie beginnt sich in den 90er Jahren auszubreiten und knüpft an Tendenzen zur Individualisierung und an Wünsche der Arbeitnehmer/-innen in der autoritär strukturierten Arbeitswelt an, über mehr Autonomie und Flexibilität zu verfügen. Daraus wurde die neoliberale Botschaft: Das Individuum soll seine Ökonomie in Selbstverantwortung regulieren und zugleich auf gesellschaftliche Absicherungen weitgehend verzichten. Die Macht des Neoliberalismus hat sich auf diese Weise quasi von innen her abgesichert, „indem man Anreize für die Menschen schuf, sich selbst als Subjekte zu betrachten, die ihrem Wesen nach autonom und unternehmerisch sein sollten und denen kollektive gesellschaftliche Lösungen und Institutionen suspekt erschienen“ (ebd., S. 80 f.). Das gelang vor allem in den 90er und 00er Jahren, als die Skepsis gegenüber Dienstleistungsbetrieben in staatlicher Hand geschürt wurde und Privatisierungen auch auf breiten Zuspruch in der Bevölkerung stießen. Oliver Nachtwey spricht deshalb in seinem viel beachteten Buch „Die Abstiegsgesellschaft“ von einer neoliberalen Komplizenschaft, weil es gelang, die Menschen für diese neue Form der Herrschaftsausübung zu gewinnen, bzw. sie in diese Herrschaft zu verstricken. Vor allem für die unteren Schichten der Gesellschaft, aber auch für große Teile der Mittelschicht erweisen sich die Entwicklungen als fatal. Angesichts der sinkenden sozialen Absicherungen sind die Arbeitnehmer/-innen – vor allem in den neuen Formen als Leiharbeiter, als Mini-Jobber und in Sub-Unternehmen – wieder vermehrt austauschbar und entbehrlich (Die Anstalt 2017). Wem es unter diesen neuen Bedingungen nicht gelingt, sich am Arbeitsmarkt zu behaupten, gilt als selbst schuld und verfügt eben nicht über die entsprechenden Qualifikationen, für die man wiederum selbst verantwortlich ist. Das höchste Lebensziel liegt nach der neoliberalen Ideologie in der Verpflichtung „den eigenen Marktwert zu maximieren“ (Butler 2016a, S. 24).

 

Mit diesen neuen Gefährdungen – auch Prekarität bezeichnet – geht eine Eskalation der Ängste vor der eigenen Zukunft einher (vgl. ebd., S. 25). Heranwachsende reagieren auf diese Botschaften oft mit Anpassungsmechanismen, indem sie vor allem auf die verwertbaren Qualifikationen und Zertifikate achten und beispielsweise ihr Auslandsjahr weniger aus Neugier als zum Zertifikaterwerb nutzen. Auf der anderen Seite gibt es auch diejenigen, die unter den herrschenden Konkurrenzbedingungen angesichts ihrer unteren sozialen Lage von vornherein kaum Chancen sehen und sich entsprechend fatalistisch oder auch aggressiv verhalten. Und nicht zuletzt ist ein drittes und paralleles Reaktionsmuster auf den Neoliberalismus zu erwähnen: weltweite Besetzungen der öffentlichen Räume durch die Occupy-Bewegung und jugendliche Massenproteste vor allem in Spanien ab 2011.

 

3. Die Relevanz von Emotionen für die politische Willensbildung wird immer noch unterschätzt und ausgeblendet.

 

In der politischen Theorie kommt den Gefühlen bislang immer noch ein sehr begrenzter Stellenwert zu. „Die Demokratie vertraut auf die Verstandeskraft der politischen Akteure“ (Dustdar 2008, S. 32). Obwohl uns der Alltag und die Historie vielfach lehren, wie mit der Mobilisierung von Gefühlen – und hier vor allem den Ängsten – richtungsweisende und oftmals folgenschwere Entscheidungen beeinflusst werden, und obwohl die Medien die Affekte der Menschen geradezu täglich auch im Hinblick auf die politischen Haltungen nutzen, basiert das Menschenbild der politischen Wissenschaft – und auch der politischen Bildung – weitgehend auf Rational-Choice-Theorien. Das heißt, man geht davon aus, dass Entscheidungen und Meinungsbildungen auf rationaler Grundlage getroffen werden oder getroffen werden sollen.

 

Ganz im Widerspruch zu dieser Grundposition bezieht man sich in tagespolitischen Diskursen und in empirischen Untersuchungen wesentlich auf die Gefühlslagen und Stimmungen der Menschen, wenn man mit Begriffen wie Betroffenheit, Motivation, Politikverdrossenheit, Ressentiment und Empathie das politische Engagement und die Wählerwanderungen zu erklären sucht.

 

Mit Emotionen – dem Oberbegriff der verschiedenen Gefühle und Affekte – werden psychische Zustände beschrieben, die vom Subjekt erlebt werden. Im Unterschied zu den Gefühlen beschreiben Affekte jene Emotionen, die besonders körperbezogen sind und sich, vor allem in den ersten Lebensjahren, vorwiegend unbewusst abspielen. Die primären Affekte Freude, Verzweiflung, Wut, Furcht, Überraschung und Interesse sind bereits bei Säuglingen empirisch nachgewiesen. Die Erlebnisse mit diesen Affekten prägen die Entwicklungsgeschichte eines jeden Menschen und führen zu Prädispositionen, die auch dessen spätere Meinungs- und Urteilsbildung beeinflussen.

 

Affekte und Gefühle übernehmen vor dem je eigenen biographischen Hintergrund drei wichtige Funktionen ein. Erstens treten sie als Indikatoren oder Warnsignale für einen bestimmten Zustand auf. Zweitens dienen sie als Kommunikationsmittel im Austausch mit anderen und drittens fungieren als motivierende Faktoren (Mentzos 2009, 26).

 

Darüber hinaus kennen wir Gefühlszustände, die zwar im Subjekt vorhanden sind, aber eine empfundene Differenz zwischen dem Selbst und einem Anderen beschreiben. So verweisen die Gefühle Neid, Empathie und Ressentiment direkt auf ihre intersubjektive Dimension. Hannah Arendt hat in ihrer Auseinandersetzung mit Kant diese für die Urteilsbildung wichtige intersubjektive Dimension immer wieder hervorgehoben. Das Denkvermögen sei von dem öffentlichen Gebrauch abhängig, die Meinungsbildung bedürfe einer Überprüfung durch Andere und in der Gemeinschaft (Arendt 1985/2012, 63f.). Wissenschaftlich betrachtet, gehört die dualistische Vorstellung von einer Aufteilung der Meinungsbildung im Menschen in eine rationale und eine emotionale Komponente der Vergangenheit an. Die bildgebenden Verfahren der Hirnforschung haben belegt, dass „Gefühle und Gedanken gleichermaßen neuronale Aktivitäten darstellen“, die nicht zu unterscheiden sind (Heidenreich 2012, S. 9). Gefühl und Vernunft existieren nicht getrennt voneinander. Vielmehr sind auch jene als rational wahrgenommenen Entscheidungen mit Gefühlen verwoben. Gefühle sind oftmals der Ausgangspunkt für eine Erkenntnis, denn die Gefühle lenken bei einer anstehenden Entscheidung die Aufmerksamkeit auf jene negativen Folgen, die eine Entscheidung für das Subjekt haben könnte. Bevor ein Mensch rational abwägen kann, welche Entscheidung einleuchtend wäre, sind die emotionalen Impulse bereits wirksam. Gefühle haben somit eine kognitive Funktion und sind nicht länger auf einen störenden Einfluss zu reduzieren (vgl. ebd.). Sie sind vielmehr als integraler Bestandteil von Denkprozessen zu betrachten. Sie helfen dem Denkprozess, wenn sie die aus der Perspektive des Subjekts negativen Wahlmöglichkeiten unmittelbar „ins rechte Licht rücken und aus allen weiteren Überlegungen ausklammern“. Hier fungieren sie als Warnsignale und üben ihre Schutzfunktion aus. Entsprechend schwierig kann es sein, mit einem Individuum über dessen affektive Entscheidungen in einen Austausch zu treten. Zugleich kann aber eine gelungene Einbeziehung der Gefühle entsprechend wirkungsvoll sein. (Der Fall Mario aus unserer Wirkungsstudie zur politischen Jugendbildung zeigt plastisch, wie verwoben und zugleich konfligierend emotionale Dispositionen und rationale Fähigkeiten sein können (vgl. Balzter/Ristau/Schröder 2014, 143ff.)).

 

Vor dem Hintergrund der jüngeren neuronalen Erkenntnisse lassen sich die Beiträge von Immanuel Kant und Sigmund Freud zur Mündigkeit als ergänzend verstehen. Kant stellte den Mut und die Tatkraft heraus, die man benötige, um sich des eigenen Verstandes zu bedienen und aus einer selbst verschuldeten Unmündigkeit zu befreien. Er suchte somit nach motivierenden Impulsen. Freud beschrieb vor allem das, was den Menschen daran hindert, sich seines Verstandes zu bedienen, seine Ängste und verborgenen Wünsche (Erdheim 2003, 83). Er analysierte die Emotionen im Verlauf von Entwicklungsprozessen und deren unbewusste Wirkungen.

 

4. Die liberale Rationalität hat sich als Herrschaftsinstrument erwiesen.

 

Einige jüngere Analysen gehen noch einen Schritt weiter. Sie problematisieren nicht nur das rationale Handlungsmodell, sie verknüpfen es vielmehr mit dem Neoliberalsmus und der Erfahrung von unteren Klassen, sich politisch nicht mehr repräsentiert zu sehen.

 

In seinem Beitrag zu dem Buch „Die große Regression“ analysiert der indische Autor Pankay Mishra das dunkle Erbe der Aufklärung. Die Suche nach einer rationalen Alternative zur aktuellen, weltweiten Unordnung unterliegt dem Irrtum und der falschen Annahme, dass Individuen rational handeln und sich von Eigeninteressen leiten lassen. Wenn diese nicht gelinge, seien sie frustriert und wütend. Diese Wut könne dann durch die Erfüllung ihrer Interessen wieder besänftigt werden – so das Bild vom egoistischen bürgerlichen Individuum bzw. vom Homo oeconomicus. „Diese simple Sicht blendete immer schon viele Faktoren aus, die im menschlichen Leben stets präsent sind: etwa die Furcht, Ehre, Würde und gesellschaftlichen Status zu verlieren; das Misstrauen gegenüber Veränderungen; den Reiz stabiler und vertrauter Verhältnisse“ (Mishra 2017, 177). Ähnlich wie der Utilitarismus im 19. Jahrhundert kann die Ideologie des Neoliberalismus in unserer Zeit als eine verdinglichte Form der Aufklärung gelten. Denn den Marktentscheidungen wird auf der Basis des egoistischen Menschenmodells die höchste Rationalität zugesprochen. Auf diesem Modell basierend soll sich der Staat auf die Sicherung eines fairen Wettbewerbs konzentrieren und die Schutzmechanismen und Regulierungen weitestgehend abbauen. In dieser Hinsicht spielt Deutschland eine unselige Vorreiterrolle, die sich in dauerhaften Exportüberschüssen, besonders niedrigem Reallohnniveau und entsprechend wachsender Ungleichheit zeigt.

 

Die letzten 20 Jahre im Rückblick betrachtet, erscheint erstaunlich, inwieweit breite Teile der Bevölkerung den Abbau von Schutzrechten und stattlichen Regulierungen mitgetragen haben. Aber die Individualisierungsbestrebungen haben offenbar eine große Verführungskraft. Die Menschen schienen von der Hoffnung genährt, dass ihnen auf diese Weise Zumutungen der Kultur erspart blieben. Auf die besondere Feindschaft des Einzelnen gegenüber der Kultur, die das allgemeinmenschliche Interesse verkörpert, hat Freud bereits 1929 hingewiesen: „Es ist merkwürdig, daß die Menschen, so wenig sie auch in der Vereinzelung existieren können, doch die Opfer, welche ihnen von der Kultur zugemutet werden, um ein Zusammenleben zu ermöglichen, als schwer drückend empfinden“ (Freud 1927, 140). Der Abbau von gesellschaftlichen Schutzmechanismen im Zuge des Neoliberalismus hat die Menschen entwurzelt. Obwohl sie teilweise durch materielle Güter überschwemmt werden, fehlt es ihnen an Stabilität, Sicherheit, Identität und Würde. Dieser moderne Mahlstrom erhöht den Reiz des Ressentiments gegen Andere. Das Ressentiment wird durch eine Mischung aus Neid, Demütigung und Ohnmacht verursacht und vergiftet die Zivilgesellschaft. Für Mishra steht das Ressentiment in einem direkten Zusammenhang mit der Ausbreitung der Marktwirtschaft, weil formale Gleichheit mit massiven Unterschieden in Macht, Bildung, sozialem Status und Vermögen verbunden sind. Die Spannungen im Seelenleben werden verschärft, wenn die Begeisterung für Gleichheit mit einem immer wieder relativ erfolglosen Streben nach Wohlstand verbunden wird (Mishra 2017, 184).

 

Für die unteren Klassen kommt die Erfahrung hinzu, auf der Ebene des politischen Systems wenig repräsentiert zu sein. Der Großteil der Parlamentarier, politischen Beamten und Regierungsvertreter kommt aus akademischen Berufen und rekrutiert sich aus dem Expertentum. Diese Situation unterläuft die oben erwähnte „vertrauensvolle Autorisierung“, auf der eine repräsentative Demokratie beruht. Koschorke bringt die Diskrepanz zwischen Wahlvolk und den politischen Repräsentanten in unseren liberalen Demokratien auf folgende Formel. „Die Liberalen sind in der Welt demokratischer Präsentation und ihrer eingespielten Verfahren zu Hause – Verfahren, die das Wahlvolk zwar als Souverän anerkennen, es aber vom direkten politischen Handeln fernhalten“ (Koschorke 2017).

 

5. Der Autoritarismus konnte die gewachsene Enttäuschung der Verlierer geschickt mit den Folgen der Globalisierung verknüpfen.

 

Meine bisherigen Ausführungen zeigen eine mehrschichtige Erklärung des weltweit ähnlichen Erfolgs der Rechtspopulisten und Autokraten. Ihr Erfolg basiert vor allem auf drei Entwicklungen:

  • auf dem Misstrauen gegenüber den liberalen Eliten, deren Rationalität mit spezifischen Interessen verbunden ist,
  • auf dem Einkommensverlust und der Bedrohung durch wirtschaftliche und mediale Globalisierung,
  • auf der erfolgreichen Ansprache von angstbesetzten, Ressentiment beladenen und hasserfüllten Gefühlen durch die Rechtspopulisten.

In der Nation bzw. in der Renationalisierung liegt nun die neue Heilserwartung, die Rechtspopulisten und Autokraten der Globalisierung entgegenstellen und mit dem brach liegenden Unmut ihrer Anhänger verbinden. Die Führer versprechen dem Volk – ganz wie Trump zu seiner Amtseinführung – „wieder zu den Herrschern dieser Nation“ zu werden (Trump 2017, zit. n. Sarasin 2017, 2). „Das Volk soll wieder unmittelbar, ja unvermittelt selbst herrschen können, nicht vermittelt durch den Kongress, durch die Bürokratie, durch Beamte, Politiker und Lobbyisten. Unvermittelt – nun, fast, in Wahrheit aber doch vermittelt durch eine einzige, sich in aller Bescheidenheit ganz in den Dienst des Volkes stellende Figur: der Präsident, der Führer“ (Ebd.).

 

Philipp Sarasin sieht in dieser Umschiffung der demokratisch gewählten Institutionen und in dem suggerierten direkten Zugriff des Volkes auf die Macht – in Person ihres Führers – die autoritäre Kernlogik des rechten Populismus. Dieser Populismus verachtet die Institutionen und deren „Eliten“, er verachtet damit auch die Gewaltenteilung und mündet deshalb im Autoritarismus.

 

6. Für die politische Bildung kommt es darauf an, den Emotionen im Prozess der Meinungs- und Willensbildung einen viel präsenteren Raum zu geben.

 

Insgesamt zeigt sich in der politischen Bildung, dass jene sozialen Gruppen, die einer Unterstützung in besonderer Weise bedürfen, um sich aus Abhängigkeiten und Ungerechtigkeiten zu befreien, zugleich genau jene sind, die unter den modernen Verwerfungen am meisten leiden und aus der Position einer Ohnmacht zu Abwehrmechanismen und innerem Widerstand – auch gegen politische Bildung – neigen. Häufig spielen schulische Erfahrungen eine diese Abwertung und Ohnmacht unterstützende Rolle, denn Schule ist auf Selektion angelegt. Und auch in anderen öffentlichen Institutionen sowie in zivilgesellschaftlichen Engagement-Feldern dominiert die gebildete Mittelschicht und grenzt untere Milieus ökonomisch und habituell aus. Was für die Heranwachsenden oftmals in der Familie und an dem sozialen Ort ihres Aufwachsens begann, indem sie Entwertungen und Kränkungen erfahren und sich nicht an einem flexiblen und zugleich stabilen Gegenüber – an einer hinreichend guten Objektbeziehung – entwickeln und bilden konnten, setzt sich in der Schule und anderen Erfahrungsfeldern fort. Abwertungs- und Ausgrenzungserfahrungen wiederholen und verfestigen sich. Das Verhältnis zur Welt gerät für die Heranwachsenden zu einem oft mühseligen „Kampf um Anerkennung“.

 

Im Hinblick auf die Teilnehmenden in der politischen Bildung kommt es darauf an, den Gefühlen und inneren Konflikten einen Raum zu geben, in dem sie ausgesprochen oder auf andere Weise – mit Medien oder über szenische Übungen – zum Ausdruck gebracht werden können. Mit Alexander Mitscherlich (1963) können wir das Affektbildung nennen. Affektbildung bedeutet, dass ein Mensch die Fähigkeit besitzt, sich zugleich in den kulturellen Verhaltensstilen und dennoch persönlich ausdrücken zu können. Dazu muss der Mensch wissen, „wer er ist, wie er sich verhält, wenn er erregt ist; er will auch in der Erregung ein Gefühl für sich und ein Gefühl für den Partner behalten“ (1963: 30). Der Mensch möchte auch in dieser Hinsicht eine Aufklärung erreichen und möchte Selbsttäuschungen erkennen. Auch wenn der Eigenantrieb dazu immer wieder zu spüren ist, bleibt Affektbildung das schwierigste Bildungsziel, weil es oftmals nur über schmerzhafte Erfahrungen zu erreichen ist. Affektbildung ist eng daran gebunden, sich mit inneren Konflikten auseinanderzusetzen; und deshalb können wir das positive Ziel dieser Seite der Bildung darin sehen, „dass wir eine innere Toleranz für den Umgang mit Konflikten entwickeln, die wir erleben“ (ebd.: 34). Die Artikulation der Gefühle und Konflikte ist als wesentlicher Schritt zu einer Affektbildung anzusehen. Denn damit werden die Fähigkeiten zu mehr Selbstwahrnehmung und Reflexion weiter ausgebildet.

 

Gelingen kann die Förderung von selbsttätigem Denken, Urteilen und Handeln nur, wenn die emotionalen Blockaden, die bei vielen Jugendlichen dem entgegenstehen, angemessen wahrgenommen und verstanden werden, und wenn über interessante Settings und vor allem personale Bezüge die Person des Jugendlichen in seiner Neugier und in seinen Potenzialen erreicht wird. Am Anderen, am Pädagogen können die Jugendlichen eine kritische Haltung kennenlernen und erfahren; das ermutigt sie, übernommene Meinungen in Frage zu stellen und eigene Haltungen sukzessive zu entwickeln. Dieser Gedanke führt in den Kern von politischer Bildung: die Urteilsfähigkeit. Zu deren Herausbildung wird die Interaktion mit dem „Anderen“ unbedingt gebraucht. Deshalb kann in der politischen Bildung auch von „bezogener Urteilsbildung“ gesprochen werden (Schröder 2004). Damit ist gemeint, dass sich die Urteilsbildung in der Auseinandersetzung und in der Beziehung mit anderen herstellt und entwickelt. Wie bereits erwähnt, hat bereits Arendt die intersubjektive Dimension betont. Sie stellte die weit verbreitete Ansicht in Frage, das Individuum bilde sich seine Meinung „ganz alleine“ und werde anschließend das vertreten, was es sich im „kopf bereits zurechtgelegt habe“ (2012, 63).

 

Die Möglichkeiten, sich ein eigenes Urteil bilden zu können, müssen geweitet werden, und es kommt darauf an, darin wirklich einen Gewinn für sich und sein Leben erkennen und erspüren zu können. Für die Urteilsbildung – besonders bei jenen, die sich von gesellschaftlicher Teilhabe als ausgeschlossen sehen – ist ein anerkennender Umgang mit und eine anschlussfähige Beziehung zu dem „Anderen“ eine wesentliche Voraussetzung dafür, Selbstvertrauen und Mut entwickeln zu können. Ein wahrnehmender und reflexiver Umgang der Pädagoginnen und Pädagogen mit der emotionalen und intersubjektiven Dimension von Erkenntnisprozessen kann die Teilnehmenden zudem vor einer Überwältigung erheblich mehr schützen, als das Bild vom allein kognitiv Lernenden. Denn auf diese Weise erhalten die Pädagogen und Pädagoginnen Zugang zu den speziellen Nöten und Ängsten auf der einen Seite und dem Bedarf an Identifikation und sozialer Anerkennung auf der anderen Seite. Diese emotionale und intersubjektive Dimension des Lernens betrifft natürlich auch die Pädagoginnen und Pädagogen selbst, die entsprechend reagieren, Positionen vertreten und sich damit gerade nicht neutral verhalten.

 

Selbstverständlich müssen Vernunft und Fakten-basierte-Entscheidungen sowohl für den Einzelnen wie auch für die Gemeinschaft immer als Ziel im Visier bleiben. Doch gerade weil die Emotionen in allen Stadien der Willensbildung und auf allen Ebenen des Politischen mitmischen, müssen sie zu einem bewussten und anerkannten Teil aller Bildungs- und Interaktionsprozesse werden. Deshalb führt auch die Rede vom „rationalen Diskurs“ auf eine falsche Fährte. Vor dem Hintergrund einer Verwobenheit von Gefühl und Vernunft wäre viel angemessener von „argumentativem Diskurs“ oder „fundiertem Diskurs“ zu sprechen. Damit könnte man auch die Emotionen mit einbeziehen und sich einen Diskurs vorstellen, der auf der Basis von nachvollziehbaren Argumenten und belegbaren Fakten verläuft. Jegliche Diskurserfahrung bestätigt uns, dass die gleichen Argumente – unterschiedlich vorgetragen und unterschiedlich emotionalisiert – ganz verschieden wirken. Deshalb muss ein transparenter Diskurs immer auch diese emotional gefärbten Bewertungen wiederum für den Diskurs zugängig machen, indem man nicht nur die vorgetragenen Fakten, sondern auch diese Färbungen thematisiert und ihnen möglicherweise wiederspricht. Auch die mitschwingenden Emotionen werden damit zum Gegenstand des Diskurses selbst.

 

Download des Texts [ PDF | 556 KB ]

 

Literaturverzeichnis

  • Arendt, Hannah 1985/2012: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie. Aus dem Nachlass herausgegeben und mit einem Essay von Ronald Beiner. Zürich
  • Balzter, Nadine/Ristau, Yan/Schröder, Achim (2014): Wie politische Bildung wirkt. Wirkungsstudie zur biographischen Nachhaltigkeit politischer Jugendbildung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag
  • Bourdieu, Pierre (1994): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp (zuerst erschienen 1979)
  • Butler, Judith (2016a): Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung. Frankfurt am Main: Suhrkamp
  • Die Anstalt (2017): Sendung des ZDF Satire-Magazins vom 16.5.2017. Download: makroskop.eu/2017/05/die-anstalt-faktencheck-zum-thema-loehne
  • Dustdar, Farah (2008): Demokratie und die Macht der Gefühle, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 44-45, S. 32-38.
  • Ehmke, Carolin 2016: Gegen den Hass. Frankfurt
  • Erdheim, Mario 2003: Das Menschenbild in der Psychologie Sigmund Freuds. In: Reichhardt, Anna Katharina/ Kubli, Eric (Hrsg.): Menschenbilder. Berlin: Reimer, S. 81-94
  • Freud, Sigmund 1927: Die Zukunft einer Illusion. In: Studienausgabe. Bd. IX. Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Frankfurt/a.M., S. 135-189
  • Heidenreich, Felix (2012): Versuch eines Überblicks: Politische Theorie und Emotionen, in: Heidenreich, Felix/Schaal, Gary C. (Hrsg.): Politische Theorie und Emotionen, Baden-Baden, S. 9-26.
  • Hendrichs, Vincent F./Vestergaard, Mads 2017: Verlorene Wirklichkeit? An der Schwelle zur postfaktischen Demokratie. In: APuZ, Heft 13, S. 04-10
  • Koschorke, Albrecht 2017: Demokratie: Wenn das Warten kein Ende nimmt. In: ZEIT Nr. 16 vom 11.4.2017 Download: www.zeit.de/2017/16/demokratie-fortschritt-moderne-liberalismus-rechtspopulismus
  • Mentzos, Stavros (2009): Lehrbuch der Psychosomatik. Die Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen, Göttingen.
  • Mishra, Pankaj 2017: Politik im Zeitalter des Zorns. Das dunkle Erbe der Aufklärung. In: Geiselberger, Heinrich (Hrsg.): Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Frankfurt/a.M., S. 175-195
  • Mitscherlich, Alexander (1963/1973): Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie, München.
  • Nachtwey, Oliver (2016): Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp
  • Schröder, Achim (2004): Sich bilden am Anderen. Professionelle Beziehungen in der Jugendarbeit, in: Hörster, Reinhard/Küster, Ernst-Uwe/Wolff, Stephan (Hrsg.): Orte der Verständigung. Beiträge zum sozialpädagogischen Argumentieren, Freiburg/Breisgau, S. 231-243.
  • Tormey, Simon (2015): Vom Ende der repräsentativen Politik. Hamburg: Hamburger Edition