Kolloquium der Jugendarbeitsforschung und -theorie „Was ist Jugendarbeit?“

Am 22. Februar 2021 fand das alljährliche Kolloquium der Jugendarbeitsforschung und -theorie „Was ist Jugendarbeit?“ statt, sonst in Vlotho, dieses Jahr digital. Das Kolloquium bietet Wissenschaftler_innen die Möglichkeit, aktuelle Forschungsprojekte vorzustellen und sich mit Expert_innen und anderen Forscher_innen auszutauschen und zu diskutieren. Die Fachstelle berichtet über die Vorträge von Werner Lindner und Moritz Schwerthelm.


Werner Lindner / Moritz Schwerthelm, Foto (Schwerthelm): © Universität Hamburg

Am 22. Februar 2021 fand das alljährliche Kolloquium der Jugendarbeitsforschung und -theorie „Was ist Jugendarbeit?“ statt, sonst in Vlotho, dieses Jahr digital. Das Kolloquium bietet Wissenschaftler_innen die Möglichkeit, aktuelle Forschungsprojekte vorzustellen und sich mit Expert_innen und anderen Forscher_innen auszutauschen und zu diskutieren. Die Fachstelle berichtet über die Vorträge von Werner Lindner und Moritz Schwerthelm.

Werner Lindner: Subjektorientierung revisited. Umbauarbeiten auf der Theorie-Baustelle

Subjektorientierung, so der Ausgangspunkt Werner Lindners, sei die unhinterfragte tradierte Grundkategorie der Kinder- und Jugendarbeit. Emanzipation, Selbstbestimmung, Kritikfähigkeit oder die Befähigung, eigene und begründete Entscheidungen zu treffen und danach zu handeln, gehören zu solch einem Subjektverständnis, welches insbesondere aus den Traditionslinien der Kritischen Theorie und des Neuhumanismus entspringt. Lindner kritisierte, dass diese Subjektorientierung bisher selten hinterfragt worden sei und deshalb auch als hegemoniale Schließung innerhalb der Theorie der Jugendarbeit gesehen werden kann. Eine kritische Wendung könne der Poststrukturalismus bieten, der bisher allerdings kaum Eingang in theoretische und fachliche jugendarbeiterische Konzepte gefunden habe.

Subjektorientierung kritisch befragt. Während sich Kinder- und Jugendarbeit in ihrer Subjektorientierung vor allem auf Herrschafts- und Kapitalismuskritik stütze, sei sie gleichzeitig selbst Teil dieser Gesellschafts- und Herrschaftsordnung und würde Techniken der „sanften Selbstdisziplinierung“ anwenden. So übersetze die Praxis Verhaltensregulierungen oftmals in Bedürfnisse, das Achtsamkeits- oder Selbstwirksamkeitskonzept könnten auch als versteckte Varianten der Selbstoptimierung verstanden werden. „Anderssein“ oder „Dagegensein“ führe nicht mehr zu (notwendigen) Konflikten zwischen Jugendlichen und Pädagog_innen, sondern seien mittlerweile erwünschte Verhaltensweisen in der „Optimierungsmaschine“. Mit einem poststrukturalistischen Blick werde demzufolge sichtbar, dass die Subjektorientierung der Kinder- und Jugendarbeit nur eine Scheinfreiheit produziere, da sie selbst Teil der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung sei und diese unter dem Deckmantel der Emanzipation nur reproduziere. Lindner plädierte deshalb für eine kritische Prüfung der Subjektorientierung und vermutete, dass damit zugleich Konzepte der Differenz und Heterogenität in den Vordergrund rücken. Bildung sei unplanbar und letztendlich nur dann möglich, wenn sich die Kinder und Jugendlichen von den Erwartungen bzw. pädagogischen Zielen der Pädagog_innen emanzipieren. Bezogen auf politische Bildung gehe es dementsprechend weniger um Teilhabe und Partizipation, als vielmehr um die Hinterfragung der gegebenen, als selbstverständlich wahrgenommenen gemeinsamen Welt.

Anstoß zu hinterfragen. Die Diskutantinnen gaben im Anschluss kritisch zu bedenken, dass die Unplanbarkeit von Bildung und die damit einhergehende Unverfügbarkeit des Subjekts schon lange innerhalb der Forschung zur Kinder- und Jugendarbeit – und vor allem in der Bildungstheorie und Bildungsforschung – diskutiert werden. Zustimmung fand sich in der Beobachtung Werner Lindners, dass poststrukturalistische Ansätze kaum Beachtung in der Theorie der Jugendarbeit finden. Dies können man an der Ignoranz gegenüber der Genderdebatte (und dem damit verbundene Sprachstreit) ablesen, die Perspektiven und Denkfiguren des Poststrukturalismus entspränge. Die Theorie der Jugendarbeit durch den Poststrukturalismus zu erweitern könne dahingehend gewinnbringend sein, indem sie erneut Anstoß böte, die eigene Normativität und Verwobenheit mit gesellschaftlichen Strukturen kritisch zu hinterfragen. Am Ende blieb die Frage offen, wie man das kritische Subjekt mit Grundlegungen des Poststrukturalismus zusammenbringen könne.

Werner Lindner ist Professor am Fachbereich Sozialwesen der Ernst-Abbé-Fachhochschule Jena. Seine Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind u.a. Politikfeldanalyse Kinder- und Jugendarbeit/ Strategien und Analysen reflexiver Politikberatung, Theorie und Geschichte der Sozialen Arbeit, Kulturelle Kinder- und Jugendbildung, Qualitätsentwicklung und Professionalisierung der Kinder- und Jugendarbeit.

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Moritz Schwerthelm: Offene Kinder- und Jugendarbeit als hybride Organisation. Ein Vorschlag zur Diskussion ihrer Funktionen

Moritz Schwerthelm präsentierte in seinem Vortrag auf der Grundlage seiner Dissertation einen Exkurs zu demokratischer Partizipation und Demokratiebildung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (OKJA). Er stellte bei seiner ethnografischen Beforschung professionellen Handels in der OKJA fest, dass 1) sich Partizipation in der Praxis häufig im Widerspruch zu theoretischen Konzepten von Bildung und Partizipation befindet, 2) in vielen Situationen dennoch (weitreichend) ermöglicht wird und es 3) ein Nebeneinander sich widersprechender Konzepte, Prinzipien und Ziele gibt. Schwerthelm untersuchte „mit organisationstheoretischer Perspektive die Organisation der OKJA mit ihren spezifischen Möglichkeiten und Grenzen für Bildung und Partizipation sowie konfligierende Funktionen“ und wie und wodurch diese Spannungen erzeugt werden.

Diffuse Funktionen der OJKA. Die OKJA ist bestimmt von großer Vielfalt, diversen „Aufträgen“ und ebensolchen Begriffen und Konzepten (z.B. 18 theoretische Ansätze und Perspektiven im Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit 2021 i.E.). Ihre Funktion ist Gegenstand permanenter Aushandlung, womit ein Kern von Unbestimmtheit gegeben ist (Funktionskontingenz). Zum Teil werden Konzepte in Diskursen polarisierend gegenübergestellt. Eine starke Abgrenzung sei für Theorien durchaus kennzeichnend, empirisch scheinen sich unterschiedliche Konzepte aber nicht immer auszuschließen.

(Vorläufige) Funktionsanalyse/-modell. Die Ambivalenz der Funktionen ist in der Geschichte der Jugendarbeit durchgängig präsent, ebenso damit verbundene unterschiedliche Perspektiven auf Jugend – entweder als Potenzial oder als Risiko für gesellschaftliches Zusammenleben und Funktionieren. Schwerthelm hob vier Hauptfunktionen aus den Diskursen der Jugendarbeit heraus: 1) Bildungsfunktion: selbst-/mitbestimmt handelnde Subjekte für eine demokratische Gesellschaft, 2) Hilfefunktion: Lebensbewältigung, 3) Kontrollfunktion: Jugend als gesellschaftliche „Gefährder“, 4) Selbstorganisationsfunktion: Mitwirkung an den prinzipiell demokratisch geregelten Handlungsbereichen der Zivilgesellschaft.

Hybride OKJA. Zwischen diesen Funktionen gibt es in unterschiedlicher Art und Weise Überschneidungen, was Schwerthelm in einem komplexen, noch vorläufigen Modell erfasste. Darin werden Selbstorganisation und Bildung (i.e. Perspektive Jugend als Hoffnung bzw. Emanzipatorischer Auftrag) als jugendarbeiterische Ausrichtung markiert, während Hilfe und Kontrolle (i.e. Perspektive Jugend als Risiko bzw. Ordnungspolitischer Auftrag) die sozialarbeiterische Perspektive abbilden. In der Praxis, also in unterschiedlich ausgerichteten Einrichtungen, konstatierte Schwerthelm, gibt es zwischen den Funktionen beständig wechselnde, unterschiedliche und unterschiedlich umfangreiche Überlagerungen, bis hin zur Deckungsgleichheit.

Diese empirisch zu beobachtende Mischung kann mittels eines Modells der hybriden Organisation, in dem sich Merkmale trotz trennscharfer theoretischer, konzeptioneller und juristischer Abgrenzungen und Funktionszuschreibungen mischen, überlagern und wechseln, zu Forschungszwecken dargestellt werden. Auf diese Weise könne, so Schwerthelm, die Praxis offener als bisher thematisiert und erkundet werden. In hybriden Organisationen bilden sich „multiple Identitäten“ der pädagogischen Fachkräfte aus, die Assistenten für Selbstorganisation, für Bildung, Helfende oder Kontrollierende sein können und die Besucher_innen entsprechend adressieren. Diese positionieren sich selbst entsprechend als Nutzer_innen, Adressat_innen, Mitwirkende oder Akteur_innen.

Multiple Identitäten und Praxen, die professionelle Gestaltung der Übergänge und Wechsel der Funktionen, sind eine zentrale pädagogische Anforderung in einer hybriden OKJA. Aufgrund der Strukturcharakteristika der OKJA, u.a. die freiwillige Anwesenheit der Jugendlichen, kann ein solcher Übergang (in den Funktionen) nur gelingen, wenn ihm die Jugendlichen zustimmen oder ihn mitgestalten (Diskursivität). Übergangsgestaltungen sind daher abhängig vom „partizipativen Grundmoment“ der OKJA. Schwerthelm konstatierte, dass die Kombination von Kontingenz, Hybridität, Offenheit und Freiwilligkeit somit einerseits die (prodemokratische) Integrationsfähigkeit der OKJA bewirke. Aufgrund der von außen wahrgenommenen Unbestimmtheit sei hier aber gleichzeitig eine hohe Interventionsanfälligkeit gegeben., z.B. durch politische Einflussnahme, die mal die eine, mal die andere Funktion in den Mittelpunkt stelle.

OKJA als partizipatives „Frevelkind“ der Kinder- und Jugendhilfe. Schwerthelm zog folgendes Fazit: Alleinstellungsmerkmal der OKJA ist, dass das partizipative Grundmoment – die Mitbestimmung und Mitgestaltung der Adressat_innen – die Übergänge zwischen den Funktionen sowie den Umfang des Funktionsspektrums gewährleistet. Gleichzeitig ist professionelles Handeln kommunalpolitischen und steuernden Einflussnahmen ausgesetzt. Es ist daher hoch anspruchsvoll, denn es erfordert ständige partizipative Übergangsgestaltung und Handeln unter Bedingungen von Intervention und Ungewissheit.

Lohnend sei es daher, so Schwerthelms Resümee, das Verhältnis von OKJA als hybride Organisation zu anderen pädagogischen Arbeitsfeldern zu durchleuchten sowie Funktionen, professionelle Rollen und Handlungen sowie Adressat_innenbilder weiter zu erforschen. Ertragreich könne es vor allem sein, Übergangbereiche zwischen Rollen, sozialen Praxen, Adressierungen und Selbstpositionierungen sowie ihre Überlagerungen zu rekonstruieren. Die Beschreibung von OKJA als hybride Organisation könne auch Theorie und Praxis miteinander vermitteln, indem Übergänge zwischen den einzelnen Funktionen analysiert werden.

Moritz Schwerthelm ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Arbeitsbereich Sozialpädagogik der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Theoriebildung der Kinder- und Jugendarbeit, Jugendarbeitsforschung, demokratische Partizipation und Demokratiebildung in der Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere der Kinder- und Jugendarbeit.

Zum Weiterlesen

Moritz Schwerthelm: Offene Kinder- und Jugendarbeit als hybride Organisation – Ein Vorschlag zur Diskussion ihrer Funktionen. In: Deinet, Ulrich / Sturzenhecker, Benedikt / von Schwanenflügel, Larissa / Schwerthelm, Moritz (Hrsg.). (2021 i.E.): Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit, 5. völlig erneuerte und erweiterte Ausgabe, Wiesbaden

 

 



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