„Die Vorstellungen, die Jugendliche über Arbeit haben, sind Rohstoffe der politischen Bildung“. Interview mit Sophie Schmitt
Dr. Sophie Schmitt ist Pädagogin, Politikwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Demokratiezentrum Hessen an der Philipps-Universität Marburg. Sie ist Gewinnerin des Ursula-Buch-Preises 2018 der GPJE. Wir haben mit ihr über ihre Dissertation „Jenseits des Hängemattenlandes: Arbeit und Arbeitslosigkeit aus der Sicht von Jugendlichen – eine Rekonstruktion ihrer Orientierungen und ihre Bedeutung für die Politische Bildung“ gesprochen.
Dr. Sophie Schmitt ist Pädagogin, Politikwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Demokratiezentrum Hessen an der Philipps-Universität Marburg. Sie ist Gewinnerin des Ursula-Buch-Preises 2018 der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE). Sie arbeitet und forscht zu politischer Bildung, Rechtsextremismus, Rechtspopulismus und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, zum Wandel von Arbeit und Subjektivität und betreibt qualitativ-rekonstruktive Jugendforschung. Wir haben mit ihr über ihre Dissertation „Jenseits des Hängemattenlandes: Arbeit und Arbeitslosigkeit aus der Sicht von Jugendlichen – eine Rekonstruktion ihrer Orientierungen und ihre Bedeutung für die Politische Bildung“ gesprochen.
Fachstelle politische Bildung: Sie haben in Ihrer Dissertation dazu geforscht, wie Jugendliche sich angesichts des Wandels von Arbeit orientieren und welche Bedeutung dies für politische Lern- und Bildungsprozesse hat. Wen haben Sie befragt?
Sophie Schmitt: Ich habe Gruppendiskussionen mit 16- bis 26-jährigen Jugendlichen unterschiedlicher Hintergründe zum Thema Arbeit geführt. Um etwas über ihre grundlegenden Orientierungen zu erfahren, habe ich möglichst wenig in ihre Gespräche eingegriffen.
FpB: Was waren Ihre zentralen Erkenntnisse?
SSch: Die Jugendlichen streben insgesamt ein erwerbsorientiertes Lebenskonzept an, welches sie im Spiegel von Arbeitslosigkeit, genauer: Erwerbslosigkeit und in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Diskursen entwickeln. Bei Fragen zum Thema Arbeit und Leben nach der Schule oder Ausbildung fokussieren sie auf Arbeit im Sinne von Erwerbsarbeit. Sie greifen dabei auch auf Stereotype und Vorurteile zurück, etwa dass Erwerbslose untätig seien. Das Nichts-Tun wird dabei abgewertet, das Hängemattenland ist für sie negativ konnotiert. Auch Diskurse um Eigenverantwortung spielen hier eine Rolle. Ich konnte feststellen, dass Jugendliche ihre Vorstellungen über Arbeit vor dem Hintergrund milieuspezifischer Erfahrungen und Handlungspraxen entwickeln und habe vier Typen von Orientierungen rekonstruiert, in denen Arbeit ganz unterschiedlich mit Chancen oder Gefahren verbunden wird.
FpB: Inwiefern unterscheiden sich die Jugendlichen?
SSch: Jugendliche des Typus Zwang erleben Arbeit als existenziellen Zwang. Das heißt man muss arbeiten, um leben oder überleben zu können. Sie erwarten für sich zukünftig kein existenzsicherndes Normalarbeitsverhältnis und erleben, dass ihre Bemühungen, in Arbeitswelt und Gesellschaft Fuß zu fassen, nicht anerkannt werden. Jugendliche des Typus Status sehen Arbeit als Mittel der sozialen Positionierung an. Ihnen geht es beispielsweise um Distinktion, Exklusivität und einen bestimmten Status, den sie im Leben erreichen oder halten möchten. Andere Jugendliche wiederum orientieren sich in Bezug auf Arbeit sehr pragmatisch. Pragmatismus, so nenne ich diesen Typus, ist die grundlegende Orientierung für alles in ihrem Leben. Sie arrangieren sich auch mit widrigen gesellschaftlichen Bedingungen und glauben, durch eigene Leistung das Beste daraus machen zu können. Und schließlich gibt es Jugendliche, für die Arbeit Quelle von Sinnstiftung und Selbstverwirklichung ist. Neben der Notwendigkeit Geld zu verdienen, geht es ihnen vor allem um Spaß an der Arbeit – um eine Arbeit, die ihre Interessen, Fähigkeiten und Talente umfassend ausschöpft.
Arbeit wird also, je nach milieuspezifischen Erfahrungen und Hintergründen, sehr unterschiedlich mit Chancen und Gefahren verbunden. Verhältnismäßig ressourcenstarke Jugendliche finden sich in den Typen Status, Pragmatismus und teilweise Sinnstiftung. Sie nehmen überwiegend die mit Arbeit verbunden Freiheits- und Entwicklungsversprechen wahr und sind davon überzeugt, Hindernisse durch eigene Leistung überwinden zu können. Jugendliche, die nur auf wenige oder keine sozialen, persönlichen oder finanziellen Ressourcen zurückgreifen können, sehen weniger Möglichkeiten, mit dem von allen Jugendlichen wahrgenommenen Qualifikations- und Leistungsdruck umzugehen. Sie fühlen sich gesellschaftlich nicht anerkannt und sind Erfahrungen der Prekarität ausgesetzt. Das sind überwiegend Jugendliche des Typus Zwang.
FpB: Welche Erkenntnisse sind für die politische Bildung interessant?
SSch: Die Auseinandersetzung mit Arbeit hat für Jugendliche eine identitätsstiftende Funktion. Sie setzen sich mit dem oder der Erwerbslosen auseinander und entwickeln darüber ihre eigene Erwerbsorientierung. Der oder die Erwerbslose – der „Hartzer“ – ist Synonym für das Scheitern und dient als Abgrenzungsfolie für die eigene gesellschaftliche Verortung. Für die politische Bildung besonders relevant ist, dass Jugendliche dabei gesellschaftliche Problemlagen individualisieren und auch entpolitisieren.
Vor allem Muster von individueller Schuld und eigenem Schicksal werden von den Jugendlichen als Ursachen von Arbeitslosigkeit benannt und mit der Legitimität oder Illegitimität des Hartz-IV-Bezugs verknüpft. Nicht legitim sei es, bei Untätigkeit Hartz IV zu beziehen. Krankheit oder Schicksalsschläge hingegen gelten als legitime Gründe für den Hartz IV-Bezug.
Denken die Jugendlichen darüber nach, wie sie ihre eigenen Lebens- und Arbeitsperspektiven realisieren wollen, wird deutlich, dass sie davon überzeugt sind, alles selbst regeln zu müssen. Sie sehen sich als persönlich verantwortlich dafür an, was aus ihnen wird. Kaum reflektiert wird dabei, dass nicht nur das Thema Erwerbslosigkeit, sondern auch die eigenen Lebens- und Arbeitsperspektiven politisch gerahmt sind.
FpB: Warum ist das Thema Arbeit für die politische Bildung wichtig?
SSch: Der Wandel der Arbeit birgt ein Potenzial für Identitätsbedrohungen und Gefährdungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Dies habe ich anhand der Analyse des Wandels von Arbeit, aber auch von Subjektivität (Stichwort „unternehmerisches Selbst“ oder „flexibler Mensch“ etc.) verdeutlicht. Auch aus entwicklungspsychologischer und jugendsoziologischer Perspektive zeigt sich, dass Arbeit, insbesondere die Vorbereitung und Einmündung in Erwerbsarbeit, identitätsbedeutsame Entwicklungsaufgaben sind. Arbeit ist vor allem aus Sicht der Jugendlichen ein wichtiger Gegenstand. Alle Jugendlichen entwickeln Vorstellungen von Arbeit. Diese werden über Sozialisationsinstanzen, Peergroups, Erfahrungen in der Familie, Medien, Popkultur etc. vermittelt. Das betrifft insbesondere die Jugendlichen, die ich befragt habe. Sie stehen kurz vor dem Ende ihrer Schulzeit oder sind in Ausbildung und wollen und müssen sich orientieren, wie es zukünftig mit ihnen weiter geht. Arbeit berührt grundlegende Bedürfnisse von Jugendlichen nach Autonomie, Anerkennung und Existenzsicherung. Arbeitsmarktbezogene Anforderungen beschäftigen die befragten Jugendlichen in hohem Maße. Sie alle nehmen einen Qualifikations- und Leistungsdruck wahr, dem sie unterschiedlich begegnen. Die Vorstellungen, die Jugendliche über Arbeit entwickeln, sind Rohstoffe des Politischen, die im Rahmen der politischen Bildung aufzugreifen sind. Die Emotionen und Erfahrungen, die sie mit Arbeit verbinden, enthalten politische Dimensionen. Insbesondere sind die Individualisierung und Entpolitisierung gesellschaftspolitischer Problemlagen zugunsten der Anforderungen an Eigenverantwortung sowie die Abgrenzung und Abwertung von gesellschaftlich schwachen Gruppen im Rahmen politischer Lern- und Bildungsprozesse in den Blick zu nehmen.
FpB: Was verstehen Sie unter politischer Bildung?
SSch: Politische Bildung hat für mich das Politische in einem weiten Sinne zum Gegenstand. Sie zielt auf politische Urteils- und Handlungsfähigkeit, auf die Ermutigung und Befähigung zur Partizipation an Demokratie und ihrer stetigen Weiterentwicklung; im besten Fall trägt sie insgesamt zu einer humanen und demokratischen Gesellschaft bei. Mit diesem Verständnis ist sie genuin kritisch, denn es geht nicht darum, das Gegebene lediglich zu bestätigen oder zu reproduzieren. Es geht auch darum, dass Menschen befähigt werden, die Demokratie auf demokratische Art und Weise weiterzuentwickeln und über Alternativen nachzudenken – dazu gehört auch die Fähigkeit, utopisch und quer zu denken. Politische Bildung umfasst gleichermaßen Lern- und Bildungsprozesse. Es geht einerseits um den Erwerb, die Korrektur und Transformation von (Alltags-)Wissen im Rahmen politischen Lernens und gleichermaßen um Subjektbildung, um Arbeit an Identität, um Orientierung und Verortung in der Welt.
FpB: Welche Konsequenzen können Sie aus Ihrer Forschung für die Praxis politischer Bildung ableiten?
S.Sch: Insgesamt ziehe ich vor allem Konsequenzen konzeptioneller Art. Auf der Ebene des politischen Lernens geht es darum, das Alltagswissen der Jugendlichen aufzubrechen und zu transformieren. Das betrifft insbesondere die Abwertung von Langzeitarbeitslosen, aber auch das Prinzip der Eigenverantwortung und die Entpolitisierung von Erwerbslosigkeit. Es ist wichtig, deutlich zu machen, dass es politische, ökonomische und soziale Rahmenbedingungen und strukturelle Ursachen für Erwerbslosigkeit gibt. Gesellschaftliche Diskurse um Eigeninitiative und Eigenverantwortung sollten reflektiert und nicht noch befördert werden, wie es beispielsweise in Konzepten der Entrepreneurship Education angestrebt wird. Stereotype und Vorurteile, die rund um das Thema Arbeit existieren, sollten bearbeitet werden. Empirische Untersuchungen wie die FES-Mitte-Studie zeigen, dass nicht nur die Abwertung von Asylbewerber_innen und der Rassismus sehr verbreitet sind, sondern – und sogar in höherem Maße – auch die von Langzeitarbeitslosen. Arbeit ist also ein zentrales Thema, wenn es um Ungleichheitsideologien geht – und die sollten im Rahmen politischen Lernens bearbeitet werden.
Auf der Ebene einer umfassenderen politischen Bildung geht es neben der Wissensvermittlung darum, das Subjekt und seine Orientierungen in den Mittelpunkt zu rücken. Über lebensweltorientierte Zugänge sollten Reflexionsräume für die Auseinandersetzung mit Lebensthemen wie Arbeit geschaffen werden. Jugendliche sollen die Möglichkeit erhalten, all das zum Ausdruck bringen zu können, was sie gerade bewegt. Sie sollen sich, unabhängig davon, wie und vor welchem milieuspezifischen Hintergrund sie ihre Erfahrungen vorbringen, ernst genommen fühlen.
FpB: Wie könnte das aussehen?
SSch: Benötigt werden offene, dialogische und bewertungsfreie Zugänge. Die außerschulische Bildung ist hier gegenüber der schulischen im Vorteil, weil es dort keine starren Hierarchien und Noten gibt und der Wissenserwerb weniger im Vordergrund steht. Man sollte Jugendlichen die Möglichkeit geben, ihre eigenen Relevanzen zu setzen, also selbst zu entscheiden, was sie beim Thema Arbeit für relevant halten. Es geht darum, Raum zu schaffen, um die eigene soziale Lage, Bedürfnisse und Interessen ergründen zu können und zu analysieren, welche Macht- und Herrschaftsverhältnisse die eigenen Chancen befördern oder hemmen. Oder darum, Vorstellung von einem guten Leben und Alternativen zu entwickeln – auch jenseits von Erwerbsarbeit. Ziele sind dabei Orientierung und Selbstverortung in der Welt, um letztendlich nicht auf die Abwertung gesellschaftlicher Randgruppen und damit auch auf rechtspopulistische Angebote zurückgreifen zu müssen.
FpB: Haben Sie weitere Empfehlungen für die Praxis?
SSch: Auch problem- und konfliktorientierte Ansätze helfen, Brücken zur Lebenswelt von Jugendlichen zu schlagen. In den Gruppendiskussionen hat sich gezeigt, dass man über Fragen zur eigenen Integration oder Desintegration in Arbeit auch zu allgemeineren Schlüsselproblemen oder Konflikten rund um Arbeit kommen kann.
Letztendlich ist politische Bildung aber nicht allzuständig für jedes Übel in der Welt. Nötig sind auch bildungspolitische Impulse, die beispielsweise einer Marginalisierung und Entpolitisierung des Unterrichtsfachs politische Bildung entgegenwirken oder sich mit der Frage beschäftigen, welche politik-ökonomische Bildung in der Schule eigentlich vermittelt wird. Dabei kann es nicht darum gehen, das unternehmerische Selbst zu verabsolutieren. Man muss multiperspektivisch herangehen, um die Orientierungen, die ich ermittelt habe, nicht auch noch zu verstärken. Dafür sind politische und soziologische Anteile im Lehrplan deutlich zu stärken. Schließlich müsste es mit Blick auf eine humane und demokratische Kultur um die politische Regulierung von Desintegrationserscheinungen und Abstiegsängsten gehen, insbesondere um gesellschaftliche Abwertungen von schwachen Gruppen nicht zu verstärken.
Veröffentlicht am 26.07.2018
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