„Homogenisierung führt dazu, dass ich den Einzelnen nicht mehr sehen und ihm nicht mehr gerecht werden kann.“ Interview mit Bettina Lösch

PD Dr. Bettina Lösch ist Privatdozentin und akademische Rätin. Sie arbeitet im Lehrbereich Politikwissenschaft, Bildungspolitik und politische Bildung der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Sie ist Mitherausgeberin des 2016 erschienen Sammelbands „Geschlecht ist politisch. Geschlechterreflexive Perspektiven in der politischen Bildung“ und ist im Forum kritische politische Bildung organisiert. Im Interview mit der Transferstelle spricht sie darüber, warum wir eine kritische politische Bildung brauchen und wie geschlechterreflexive politische Bildung aussehen kann.


PD Dr. Bettina Lösch (Foto: privat)

PD Dr. Bettina Lösch (Foto: privat)

PD Dr. Bettina Lösch ist Privatdozentin und akademische Rätin. Sie arbeitet im Lehrbereich Politikwissenschaft, Bildungspolitik und politische Bildung der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Sie ist Mitherausgeberin des 2016 erschienen Sammelbands „Geschlecht ist politisch. Geschlechterreflexive Perspektiven in der politischen Bildung“ und ist im Forum kritische politische Bildung organisiert. Im Interview mit der Transferstelle spricht sie darüber, warum wir eine kritische politische Bildung brauchen und wie geschlechterreflexive politische Bildung aussehen kann.

 

Transferstelle politische Bildung: Sie vertreten eine „Kritische politische Bildung“. Was heißt das für Sie?

Bettina Lösch: In einer kritischen politischen Bildung geht es für mich darum, gesellschaftspolitische Verhältnisse, Strukturen und Zusammenhänge und auch das eigene darin Eingebundensein zu verstehen und kritisch beurteilen zu können. Kritik ist hier nicht als etwas Negatives oder als Nörgelei zu verstehen, sondern als Kunst des Verstehens und des Beurteilens. Es geht darum, Widersprüche auszuhalten, Herrschafts- und Machtverhältnisse sowie soziale Ungleichheitsverhältnisse kritisch zu hinterfragen sowie Verhältnisse auch anders denken zu können. Wir müssen wieder Mut zum eigenen Handeln und eine Utopiefähigkeit entwickeln.

TpB: Warum brauchen wir eine kritische politische Bildung?

BL: Ich fordere eine kritisch-emanzipatorische politische Bildung, weil ich mir keine Verhältnisse wünsche, die noch mehr Ausschluss für Menschen und noch mehr Herrschaftsförmigkeit bringen, sondern Verhältnisse, die zu mehr Selbstbestimmung beitragen. Es findet, grob gesprochen, seit den 1990ern gesamtgesellschaftlich eher eine Bejahung der Verhältnisse statt. Eine Anpassung an diesen Zeitgeist sehe ich auch in der politischen Bildung, vor allem in der schulischen Politikdidaktik. Es mangelt meiner Meinung nach im theoretischen Diskurs der Politikdidaktik an einer kritischen Zeitdiagnose. Es werden kaum noch gesellschafts-, politik- oder demokratietheoretische Bezüge transparent gemacht. Für mich gehört das aber zusammen: kritische – politische – Bildung. Wir müssen uns damit beschäftigen, wie sich die Verhältnisse, Politik und das Politische unter globalisierten Bedingungen verändern. Aufgabe einer kritischen politischen Bildung sollte es sein, die Verhältnisse nicht nur affirmativ zu betrachtet, sondern eben auch nach den Ursachen und Auswirkungen der Veränderungen sowie nach einem emanzipatorischen Veränderungspotential zu fragen. Für eine kritische politische Bildung ist es mir wichtig, dass ich mir neben den globalisierten Rahmenbedingungen den Politikbegriff an sich genauer anschaue, zum Beispiel mit kritischen Gesellschafts- und radikalen Demokratietheorien, die Herrschafts- und Machtverhältnisse anders begreifen.

In den 1960er und 1970er Jahren gab es noch kritische Ansätze in der politischen Bildung. Ich hatte den Eindruck, dass dieser Faden abgerissen ist. Das war der Anlass, mich in meiner Habilitation mit den verschiedenen Diskursen in der politischen Bildung zu beschäftigen und zu fragen, was eine kritische politische Bildung unter globalisierten Transformationsprozesssen bedeuten kann.

TpB: Sie haben den Sammelband „Geschlecht ist politisch. Geschlechterreflexive Perspektiven in der politischen Bildung“ mit herausgegeben. Was war der Anlass für dieses Buch?

BL: Der letzte Sammelband von Mechtild Oechsle und Karin Wetterau, der sowohl empirische Forschungsarbeiten als auch theoretische Grundlagenforschung abbildet, ist 2000 erschienen. Daher war ich der Meinung, dass wir eine aktuelle Literaturstudie brauchen, um zu sehen, was es derzeit zum Thema Geschlecht in der politischen Bildung überhaupt gibt. In den letzten 15 Jahren hat sich einiges weiterentwickelt.

TpB: Welche Rolle spielt die Kategorie Geschlecht in der politischen Bildung?

BL: Man könnte sagen, Geschlecht spielt in der politischen Bildung, zumindest in der schulischen Politikdidaktik, so gut wie überhaupt keine Rolle. Es ist eine sehr kleine Gruppierung, die sich damit beschäftigt, und es sind überwiegend Frauen.

TpB: Woran liegt das?

BL: Dafür gibt es verschiedene Gründe. Meines Erachtens liegt es zum einen daran, dass sich sowohl Politikwissenschaft als auch politische Bildung oft als geschlechtsneutral wahrnehmen bzw. imaginieren. Die Disziplinen gehen z. B. davon aus, dass ihr Sprechen eigentlich beide Geschlechter anspricht und sie gehen in der Regel von zwei Geschlechtern aus. So werden die meisten Analysen in dem Bereich als geschlechtsneutral verstanden. Empirische Forschungsarbeiten zeigen, dass hier ein versteckter Androzentrismus zu finden ist, also dass man sich an Männlichkeit orientiert und eher geschlechtsblind vorgeht. Ein weiterer Grund ist, dass Politikwissenschaft und politische Bildung immer noch in Institutionen, Strukturen und Akteur_innen denken und weniger auf der Ebene der Subjekte.
Einen guten Überblick über die Entwicklung geschlechtertheoretischer Bezüge in der politischen Bildung gibt der Beitrag von Maryam Mohseni und mir in dem Sammelband. Er fasst die Ergebnisse der Literaturstudie zusammen.

TpB: Welche Rolle spielen Geschlechterstereotype in der Forschung und Praxis politischer Bildung, insbesondere in Bezug auf Zugangsmöglichkeiten?

BL: In den empirischen Arbeiten der 1990er Jahre ging man davon aus, dass es zwei binäre Geschlechter gibt, die unterschiedlich politisch sozialisiert wurden, unterschiedliche Rollen einnehmen und deshalb auch unterschiedlich Zugänge zu Politik haben. Deshalb sollte der Politikunterricht ganzheitlich vorgehen und diese unterschiedlichen Zugänge zu Politik aufgreifen – so die Schlussfolgerung. Dadurch wurden Stereotype reproduziert, sowohl in der Forschung als auch in der Praxis. Wenn man von Anfang an von einer Geschlechterdifferenz ausgeht, dann wird man sie am Ende auch bestätigt bekommen. Lösungsvorschläge oder Bildungsmaterialien für den Unterricht reproduzieren Geschlechterstereotypen folglich ebenfalls weiter.

Es stellt sich die Frage, ob man mit dieser Reproduktion von Rollenmustern und Stereotypen wirklich Zugänge zu politischer Bildung schafft oder ob man sie dadurch eher verhindert.

TpB: Gibt es denn geschlechterorientierte Zugänge zu politischer Bildung?

BL: Das ist eine wichtige Frage, wenn es um die Dekonstruktion von Geschlecht geht. Wenn ich von Mädchen und Jungen oder Frauen und Männern spreche, laufe ich stets Gefahr, Stereotypen zu reproduzieren. Allerdings brauche ich diese Kategorien als Sozialwissenschaftlerin, weil es sich nach wie vor um Kategorien sozialer Ungleichheit handelt und ich mich auf sie beziehen muss, um auf strukturelle soziale Ungleichheit hinweisen zu können. Und vielleicht auch, um offen zu legen, dass es damit verbunden geschlechterspezifische Zugänge gibt. Denn es gibt bestimmte Individuen, die im Sinne von Weiblichkeit oder Männlichkeit sozialisiert werden. Das kann ich ja nicht negieren.

TpB: Was bedeutet das für die politische Bildungsarbeit?

BL: Wir wissen aus der Genderforschung, dass jedes Individuum anders ist. Es gibt keine Einheitlichkeit in der vermeintlichen Genus-Gruppe von Männern oder Jungen. Wichtig ist zu beachten, dass Homogenisierung immer dazu führt, dass ich den Einzelnen nicht mehr sehen und ihm nicht mehr gerecht werden kann.

Für die politische Bildungsarbeit ist es vom Kontext abhängig, wie ich als Bildner_in meine Angebote gestalte. Wenn es z. B. wichtig ist, Mädchen oder Jungen für etwas Bestimmtes zu ermutigen, brauche ich evtl. eine explizite Mädchen- oder Jungenarbeit. Zu beachten ist allerdings, dass es Menschen gibt, die sich nicht festlegen wollen oder können, die z. B. transgender sind. Hier braucht es eine heteronormativitätskritische und queere Jungen- und Mädchenarbeit. Es geht darum, möglichst niemanden auf eine bestimmte soziale Position hin festzulegen, sondern Freiheitsräume zu ermöglichen. Dazu gibt es im Sammelband einige gute Beiträge. Wir haben Menschen aus der Bildungspraxis gefragt, wie sie in ihrer Arbeit konkret vorgehen.

Es stellt sich z. B.öfter die Frage, ob man Gruppen trennen sollte oder nicht. Ich glaube, man hat einen besseren Zugang, wenn man Menschen danach fragt, in welche Gruppe sie gehen möchten. Ich empfehle daher, dass eine Einteilung immer freiwillig geschehen sollte. Am besten wird diese Entscheidung gemeinsam mit der Gruppe getroffen.

TpB: Welche empirischen Forschungsarbeiten, die sich mit der Kategorie Geschlecht beschäftigen, können Sie für die politische Bildung empfehlen?

BL: Mir ist es wichtig, unter Forschung verschiedenes zu verstehen: Empirische quantitative oder qualitative Forschung, theoretische Grundlagenforschung und ebenso Forschungsarbeiten, die fast nebenbei passieren, wenn Bildungsmaterialien oder eigene Bildungssettings entwickelt werden.
Sehr inspirierende empirische Forschungsarbeiten haben zum Beispiel Judith Krämer und Marie Winkler vorgelegt. Sie haben Genderfragen für den Unterricht bzw. den Fachunterricht empirisch beforscht. Judith Krämer hat Gemeinschaftskundelehrer_innen in Bremen auf die Relevanz der Wahrnehmung der Kategorie Geschlecht in der Schule befragt. Marie Winkler hat neue Forschungsansätze erprobt hat und meines Erachtens versucht, Denken in Geschlechterdifferenz zu überwinden.

Auch die Arbeiten von Susanne Offen sind sehr zu empfehlen, da sie Geschlecht und sexuelle Orientierung zusammendenkt und damit an Gender- und Queer-Studies anknüpft. Sie hat Jugendliche aus der neunten und zehnten Klasse gebeten, auf der Basis eines Genderexperiments ihre Bedeutung und Zusammenhänge in verschiedenen Lebensbereichen zu diskutieren.

TpB: Lässt sich aus den Erkenntnissen der geschlechtergerechten politischen Bildung etwas auf andere Kategorien oder Zielgruppen politischer Bildung übertragen?

BL: Ich würde sagen, dass sich Ähnliches, wie die bereits beschriebene Reproduktion von Stereotypen und Geschlechterrollen in Forschung und Praxis politischer Bildung auch in der Debatte um sogenannte bildungsferne Jugendliche feststellen lässt. Es werden auch hier bestimmte Annahmen getroffen oder bestimmte Erkenntnisse erzielt, z. B. dass „bildungsferne“ Jugendliche nicht so stark an etablierter, institutionalisierter Politik interessiert seien, dass sie Namen von Politiker_innen vielleicht nicht korrekt kennen oder politische Institutionen und Verfahrensweisen. Dass sie, wie die Sinus-Milieu-Studie feststellte, dennoch ihr eigenes Politikprogramm haben. Das sind wichtige Erkenntnisse. Sie dürfen meines Erachtens aber nicht dazu führen, dass wir diese Gruppe homogenisieren und nur noch Zugänge schaffen, die ausschließlich betroffenheits- und lebensweltorientiert sind.

Ähnliche Beispiele finden wir in Hinblick auf Geschlecht. Es wurde davon ausgegangen, dass Mädchen und Frauen eher an unkonventionellen Politikformen und eher an ihrem Nahbereich interessiert sind und mehr Emotionen in Politische mit reinbringen. Ich will nur sagen, es wurden etliche Stereotype reproduziert. Dabei besteht die Gefahr, dass ihnen das Recht auf Orientierungswissen, auf die Fähigkeit zur Abstraktion sowie Zusammenhänge und gesellschaftliche Strukturen zu verstehen, abgesprochen und vorenthalten wird.

Zugänge zu schaffen bedeutet immer, die Abstraktion, das Gemeinsame, den Bezug zu Politik über das Individuelle und Sozialisationsprozesse hinaus verstehen zu können, denn das macht das Politische aus. Zugänge zu schaffen bedeutet aber auch, dieses Gemeinsame, das Politische, das Globale, in Alltagsverhältnissen und vor Ort, lokal, aufzusuchen. Wichtig ist dabei, nicht zu polarisieren und keine Trennung zwischen Alltag, Lebenswelt und Erfahrungen einerseits und abstrakten Strukturen andererseits zu schaffen. Stattdessen gilt es herauszufinden, wie man einen breiten, umfassenderen Zugang zum Politischen finden kann.

 

Veröffentlicht am 29. November 2016



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