„Mein Ansatz politischer Bildung fokussiert auf Mündigkeit – und zwar als Voraussetzung und Zielperspektive gleichermaßen.“ Fünf Fragen an Stefan Müller

Dr. Stefan Müller ist Professor für Soziale Probleme, Bildung und Gesellschaft an der Frankfurt University of Applied Sciences und Privatdozent für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Gießen. Im Interview spricht er über sein Forschungsprogramm einer reflexiven und mündigkeitsorientierten politischen Bildung, die Grenzen von Reflexivität und was dies beispielweise für den Zusammenhang von Bildung und Antisemitismus bedeutet.


Dr. Stefan Müller (Foto:privat)

Dr. Stefan Müller ist Professor für Soziale Probleme, Bildung und Gesellschaft an der Frankfurt University of Applied Sciences und Privatdozent für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Gießen. Im Interview spricht er über sein Forschungsprogramm einer reflexiven und mündigkeitsorientierten politischen Bildung, die Grenzen von Reflexivität und was dies beispielweise für den Zusammenhang von Bildung und Antisemitismus bedeutet.

 

1. Was ist Ihr aktuelles und was war Ihr letztes Forschungsprojekt zur politischen Bildung?

Mein letztes Forschungsprojekt zur politischen Bildung ist mein Buch Reflexivität in der politischen Bildung. Untersuchungen zur sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik. Hier skizziere ich theoretische, didaktische und praktische Aspekte einer reflexiven politischen Bildung. Mir geht es vor allem darum, dass dichotome Konzepte nicht überzeugen können. Eine reflexive politische Bildung befragt ihre eigenen Annahmen aus einer mündigkeitsorientierten Perspektive. So wird weiterführend diskutierbar, welche Momente (nicht) zu einer Unterstützung von Mündigkeit beitragen. Eine solche Befragung kann z.B. an den normativen Orientierungen, an den fachdidaktischen Prinzipien, am Kontroversitätsgebot usw. ansetzen, aber auch an den strukturellen Rahmenbedingungen. Ich gehe der Frage nach, wie eine Umstellung auf reflexive politische Bildungserfahrungen (nicht) gelingt und was dies für Konzepte und Methoden der politischen Bildung bedeutet. Es geht mir in diesen Arbeiten auch stets um die Grenzen von Reflexion, wie sie beispielsweise in der Antisemitismusprävention deutlich werden. Der Zusammenhang von Bildung und Antisemitismus wird mitunter auf die kausale Annahme gebracht: „Wenn Bildung, dann immun gegen Antisemitismen“. Das ging noch nie auf und kann weder theoretisch noch praktisch überzeugen. Auf die daraus resultierenden Herausforderungen gehe ich in meinen aktuellen Projekten ein. Beispielsweise gebe ich zusammen mit Marc Grimm die Reihe Antisemitismus und Bildung im Wochenschau-Verlag heraus und in Kürze erscheint unser gemeinsam mit Julia Bernstein herausgegebener Sammelband Schule als Spiegel der Gesellschaft. Antisemitismen erkennen und handeln.

2. Welche Ihrer Forschungsergebnisse schätzen Sie als besonders relevant für die Praxis politischer Bildung ein?

Mein Ansatz politischer Bildung fokussiert auf Mündigkeit – und zwar als Voraussetzung und Zielperspektive gleichermaßen. Dabei nehme ich Folgendes sehr ernst: Einige werden in der politischen Bildungsarbeit vielleicht schon die Erfahrung gemacht haben, dass die Vorbereitungen nicht in der geplanten Art und Weise in der Praxis umgesetzt wurden. Ich gehe davon aus, dass dies der Normalfall und nicht die Ausnahme ist. Im Kurzschluss kann dies nun als Fehler der Praxis oder der Theorie interpretiert werden. Aus einer mündigkeitsorientierten Perspektive hängt das mit der Mündigkeit der Beteiligten zusammen! So können einige der Herausforderungen im Theorie-Praxis-Transfer sozialwissenschaftlich gut erklärt werden. Darüber hinaus kann das Scheitern von Angeboten politischer Bildung damit zusammenhängen, dass die Mündigkeit der Lernenden den gut gemeinten Absichten untergeordnet und damit auch instrumentalisiert wird. Zu Recht wehren sich Lernende aber gegen die subtilen Formen von Indoktrination und Überwältigung. Das ist der moderne Kern des Beutelsbacher Konsenses. Darin zeigt sich, dass die didaktische Gestaltung von Bildungserfahrungen weitaus anspruchsvoller ist, als es zunächst aussieht. Mit dem Konzept der Mündigkeit liegt ein Orientierungspunkt vor, der die gewünschten und die nicht-intendierten Annahmen und Effekte gleichermaßen im Blick auf ihre autonomieeinschränkenden und ihre autonomieunterstützenden Momente erfassen kann.

3. Welche Themen im Kontext politischer Bildung sollten Ihrer Meinung nach beforscht werden?

Für die Frage, was wie im sozialwissenschaftlichen Fachunterricht (nicht) passiert, liegen vergleichsweise wenige Arbeiten vor. Die Soziologie und die Erziehungswissenschaft haben hierfür feine Instrumentarien im Bereich der qualitativen Sozialforschung entwickelt, die über rekonstruierende Verfahren Aufschluss über das genuin fachdidaktische Wissen generieren können. Quantitative Daten über die (Anti-)Diskriminierungsbereitschaft von Lehrer/-innen im sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächerverbund stehen noch aus. Daneben bildet die Analyse von Bildungsmaterialien, beispielsweise durch Argumentationsanalysen, ebenfalls erheblichen Diskussionsbedarf, um genauere Kenntnis über die (stillschweigenden) Annahmen zu erhalten, die die erwünschten Bildungserfahrungen hervorbringen sollen. Hier zeigt sich recht deutlich, dass kausale Ursache-Wirkungs-Annahmen für die Gestaltung von mündigkeitsorientierten Bildungserfahrungen kaum ausreichen. Davon kann der Fachdiskurs der politischen Bildung profitieren, weil damit die mühsam errungene Professionalisierung weiter ausgebaut werden kann.

4. Welchen Gewinn kann ein Dialog von Wissenschaft und Praxis und ein Austausch zwischen den Wissenschaftsdisziplinen für die politische Bildung bringen?

Für einen gewinnbringenden Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis sollten die Eigenlogiken beider Seiten beachtet werden. Theorie kann nicht unmittelbar in Praxis umgesetzt werden, und Praxis kann nicht auf die direkte Anwendung von Theorie beschränkt werden. Dadurch würde es zu einer Einengung kommen, die beiden Feldern nicht gerecht wird. Denn beide Seiten weisen eigene Facetten auf, die nicht in der anderen Seite aufgehen. Das ist eine dialektische Bestimmung, die über eine dichotome Gegenüberstellung von Wissenschaft und Praxis hinausgeht – ohne aber beides schlicht in eins zu setzen. Daher habe ich in Reflexivität in der politischen Bildung die Unterscheidung zwischen einer reinen Übertragung einerseits und einer Übersetzung wissenschaftlichen Wissens in die Praxis hinein andererseits entwickelt. Eine Übersetzung nimmt die Eigenlogiken beider Felder ernst.

Für eine moderne politische Bildung sind vor allem interdisziplinäre Einsichten gewinnbringend. Eine interdisziplinär fundierte politische Bildung kann die aktuellen Fragen und Zukunftsfragen politischer Bildung, wie zu Religion, Geschlecht oder Digitalisierung, multiperspektivisch beantworten. Die Kenntnis interdisziplinärer Perspektiven und wissenschaftstheoretischer Paradigmen wäre daher eine wichtige Stärkung der politischen Bildung. Denn in und durch Kontroversität kann die eigene Perspektive gestärkt, ausgebaut oder auch verworfen werden.

5. Die Fachstelle politische Bildung hat eine Landkarte der Forschung zur politischen Bildung entwickelt, um Austausch und feldübergreifende Zusammenarbeit zu fördern, zwischen und innerhalb der Wissenschaftsdisziplinen sowie zwischen Wissenschaft und Praxis. Sie sind dort mit einem Eintrag vertreten. Über welche Kontaktaufnahmen oder Anfragen anderer Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen oder sonstiger Interessierter würden Sie sich freuen?

Eine reflexive, mündigkeitsorientierte politischen Bildung wird über Austausch und Kooperation weiterentwickelt, daher bin ich für alle Formen des produktiven Austauschs offen.

Zum Weiterlesen:

  • Bernstein, Julia / Grimm, Marc / Müller, Stefan (Hrsg.) (2021): Schule als Spiegel der Gesellschaft. Antisemitismen erkennen und handeln. Frankfurt
  • Grimm, Marc / Müller, Stefan (Hrsg.) (2020): Bildung gegen Antisemitismus. Spannungsfelder der Aufklärung. Frankfurt. Leseprobe
  • Mende, Janne / Müller, Stefan (2020): Einfach komplex? Die Übersetzung politikwissenschaftlicher Komplexität in die Gesellschaft, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, Jg. 30, H. 3, S. 379-399, Online
  • Müller, Stefan (2020): Reflexivität in der politischen Bildung. Untersuchungen zur sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik. Frankfurt. Leseprobe
  • Müller, Stefan (2021): Kontroversität. In: Sander, Wolfgang / Pohl, Kerstin (Hrsg.): Handbuch politische Bildung. Frankfurt, S. 231-239
  • Müller, Stefan / Sander, Wolfgang (Hrsg.) (2018): Bildung in der postsäkularen Gesellschaft. Weinheim. Leseprobe


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