„Das Fach Politik ist prädestiniert, aktuellen Antisemitismus zu thematisieren“ Fünf Fragen an Christoph Wolf
Dr. Christoph Wolf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Didaktik der Demokratie der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover. In seiner Dissertation hat er zu Vorstellungen von Politiklehrkräften zu Antisemitismus geforscht und fordert, das Thema Antisemitismus in der Lehrkräfteausbildung und in den Lehrplänen zu verankern. Aktuell arbeitet er in einem international vergleichenden Projekt (Deutschland, Australien, Österreich) zum Thema Inclusive Citizenship Education.
Dr. Christoph Wolf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Didaktik der Demokratie der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover. In seiner Dissertation hat er zu Vorstellungen von Politiklehrkräften zu Antisemitismus geforscht und fordert, das Thema Antisemitismus in der Lehrkräfteausbildung und in den Lehrplänen zu verankern. Aktuell arbeitet er in einem international vergleichenden Projekt (Deutschland, Australien, Österreich) zum Thema Inclusive Citizenship Education.
1. Was ist Ihr aktuelles und was war Ihr letztes Forschungsprojekt zur politischen Bildung?
In meinem Dissertationsprojekt habe ich untersucht, welche Vorstellungen Politiklehrkräfte von Antisemitismus haben. Die Arbeit ist 2021 unter dem Titel „Wie Politiklehrkräfte Antisemitismus denken – Vorstellungen, Erfahrungen, Praxen“ bei Springer VS erschienen.
Aktuell befasse ich mich – nach einer coronabedingten Unterbrechung – wieder mit dem international vergleichenden Projekt „Inclusive Citizenship Education to address increasing societal disparity: A cross-country investigation between Germany and Australia“, das vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) gefördert wird. Hierfür haben wir, gemeinsam mit Kolleg*innen der Universität Sydney, Schulen in Sydney und Hannover besucht und Lehrkräfte, nicht nur, aber vorwiegend sozialwissenschaftlicher Fächer, und Schulleitungen zu Fragen inklusiver Bildung interviewt. Wir wollten wissen, inwiefern die Lehrkräfte und Schulen inklusive Bildungsansätze berücksichtigen. Werden im Unterricht etwa Perspektiven von Jugendlichen mit Einwanderungsgeschichte mitgedacht? Wie spiegelt sich Vielfalt im schulischen Alltag wider? Wie werden geflüchtete Schüler*innen unterstützt? Zusätzlich haben wir uns die Curricula angeschaut, da diese ja einen normativen Rahmen setzen. 2020 haben wir das Projekt mit der Universität Wien um eine österreichische Perspektive erweitert.
2. Welche Ihrer Forschungsergebnisse schätzen Sie als besonders relevant für die Praxis politischer Bildung ein?
Meine Forschung zeigt, dass die meisten Politiklehrkräfte ein geringes Wissen zum Thema Antisemitismus besitzen. Das Thema spielt in der Ausbildung keine Rolle und besitzt auch im Politikunterricht wenig Relevanz, da es curricular höchstens implizit verankert ist. Hinzu kommt, dass einige Politiklehrkräfte (unbewusst) Fragmente antisemitischer Vorstellungen reproduzieren. Diese Situation führt insgesamt dazu, dass antisemitische Vorfälle nicht immer erkannt, thematisiert und bearbeitet werden. Zudem besteht die Gefahr, dass antisemitische Ressentiments, die Schüler*innen äußern, legitimiert werden. Dies ist insbesondere beim israelbezogenen Antisemitismus wahrscheinlich.
Für die Praxis politischer Bildung halte ich es für relevant, das Thema Antisemitismus in den Lehrplänen explizit zu verankern. Das Fach Politik ist prädestiniert, aktuellen Antisemitismus zu thematisieren. Dies muss jedoch mit einer adäquaten, d.h. antisemitismuskritischen Ausbildung der Lehrkräfte einhergehen. Geschieht dies nicht, kann eine vermehrte Thematisierung die Lage sogar verschlimmern.
Erste Analysen unseres Projektes zu Inclusive Citizenship Education zeigen, dass inklusive Ansätze in Australien sowohl curricular als auch in der schulischen Alltagspraxis selbstverständlicher sind und auch gelebt werden, zumindest im öffentlichen Schulsystem. Die Privatschulen wiederum beschränken sich stärker auf symbolische Handlungen. In Deutschland und Österreich wird inklusive Bildung häufig mit der Beschulung von Kindern mit Behinderung gleichgesetzt. Schüler*innen, die Anforderungen etwa aufgrund sprachlicher Hürden nicht entsprechen, wird auf den Gymnasien nahegelegt, den Schultyp zu wechseln. Insgesamt lässt sich jedoch im deutschsprachigen Raum eine wachsende Offenheit für inklusive Bildung feststellen, vor allem an Gesamtschulen. Dies spiegelt sich auch in den Curricula wider. Die Schulsysteme bekennen sich grundsätzlich zur Förderung und Anerkennung von Vielfalt.
3. Welche Themen im Kontext politischer Bildung sollten Ihrer Meinung nach beforscht werden?
Neben den von mir beschriebenen Themen halte ich es für grundsätzlich relevant, sich mit verschiedenen Formen von Diskriminierung zu befassen und insgesamt eine diskriminierungskritische Perspektive einzunehmen.
Darüber hinaus sehe ich grundsätzlich Bedarf nach kriteriengeleiteter, empirischer Forschung. Viele wichtige und richtige Forderungen der politischen Bildung verbleiben oft auf einer theoretischen Ebene und sind damit für die Praxis schwer greifbar. Wie genau etwa sind Forderungen der antisemitismuskritischen Bildung für die Praxis zu operationalisieren? Was bedeutet Selbstreflexion im konkreten Lernsetting? Welche Wirkungen werden durch einzelne Maßnahmen erzielt?
4. Welchen Gewinn kann ein Dialog von Wissenschaft und Praxis und ein Austausch zwischen den Wissenschaftsdisziplinen für die politische Bildung bringen?
Gerade didaktische und pädagogische Disziplinen sind auf einen Austausch mit der Praxis angewiesen, die Übergänge sind meines Erachtens nach häufig fließend. Ein Dialog hilft grundsätzlich, beide Perspektiven zusammenzubringen. Wie in der vorherigen Frage angedeutet, kann politische Bildung gerade im Austausch mit der Praxis Erkenntnisse und Thesen empirisch überprüfen.
Ein Austausch mit anderen Wissenschaftsdisziplinen ist aus meiner Sicht essenziell. Die politische Bildung ist ja per Definition ein interdisziplinärer Ansatz, der stets von den sozialwissenschaftlichen Bezugsdisziplinen profitiert hat und auch weiterhin profitiert. Ich denke, dass neben erziehungswissenschaftlichen, politikwissenschaftlichen und soziologischen Perspektiven vor allem psychologische Erkenntnisse stärker genutzt werden können, hier insbesondere die der Sozial- und Pädagogische Psychologie, etwa wenn es um Bedingungen des Lernens geht.
5. Die Fachstelle politische Bildung hat eine Landkarte der Forschung zur politischen Bildung entwickelt, um Austausch und feldübergreifende Zusammenarbeit zu fördern, zwischen und innerhalb der Wissenschaftsdisziplinen sowie zwischen Wissenschaft und Praxis. Sie sind dort mit einem Eintrag vertreten. Über welche Kontaktaufnahmen oder Anfragen anderer Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen oder sonstiger Interessierter würden Sie sich freuen?
Ich freue mich grundsätzlich über einen Austausch zu Fragen antisemitismus- und diskriminierungskritischer Bildung.
Veröffentlicht am 03.03.2022
Zum Weiterlesen
- Sie finden Christoph Wolf in der Landkarte der Forschung zur politischen Bildung.