„Auch Konsens ist begründungspflichtig – Wer mit Konsens nicht überwältigen will, muss diesen gegenüber zu erwägenden problemadäquaten Alternativen begründen können.“ Fünf Fragen an Bettina Blanck

Bettina Blanck ist Professorin für Sozialwissenschaftlichen Sachunterricht an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Im Interview gibt sie Einblick in das Konzept einer Erwägungsorientierung als Forschungsorientierung und philosophische Haltung. Am Beispiel des Beutelsbacher Konsenses erläutert sie, welchen Mehrwert eine erwägungstheoretische Perspektive für politische Bildung und eine demokratische Gesellschaft haben kann.


Portrait Foto Bettina Blanck

Prof.in Dr.in Bettina Blanck (Foto: privat)

Bettina Blanck ist Professorin für Sozialwissenschaftlichen Sachunterricht an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Im Interview gibt sie Einblick in das Konzept einer Erwägungsorientierung als Forschungsorientierung und philosophische Haltung. Am Beispiel des Beutelsbacher Konsenses erläutert sie, welchen Mehrwert eine erwägungstheoretische Perspektive für politische Bildung und eine demokratische Gesellschaft haben kann.

 

1. Was ist Ihr aktuelles und was war Ihr letztes Forschungsprojekt zur politischen Bildung? 

Aktuell forsche ich vor allem zur Frage: Wie können Grundbegriffe der Sozialwissenschaften in philosophischen Gesprächen mit Schüler*innen klärungsförderlich behandelt werden? Wie kann man z. B. mit Schüler*innen über Entscheidungen und die Relevanz eines Erwägens von problemadäquaten Alternativen nachdenken? Dafür sind insbesondere folgende Fragen relevant, mit denen ich mich schon länger auseinandersetze: Wie kann man den Blick weg von vorschnellen Bewertungen und Positionierungen hin zu den zu erwägenden problemadäquaten Alternativen lenken? Was bedeutet dabei problemadäquat genau? Inwiefern handelt es sich bei Alternativen um echte oder um Pseudo-Alternativen? Wie lässt sich einschätzen, inwiefern dem jeweiligen Problem angemessen umfassend über zu erwägende Alternativen nachgedacht wurde? Wie sind weiterhin jeweilige Bewertungskriterien einzuschätzen hinsichtlich ihrer Angemessenheit? Wie kann man verantwortbar mit Grenzen des Erwägenkönnens umgehen, etwa angesichts knapper Zeitressourcen? Wer stellt wen wann und warum vor welche Wahlmöglichkeiten? Was bedeutet es, wenn z. B. Politiker*innen behaupten, etwas sei alternativlos

Fragestellungen meiner letzten Forschungen waren z. B.: Wie hängen Partizipation, Demokratisierungen, Entscheidungs- und Begründungskompetenzen zusammen? Wie kann in einer Gesellschaft mit Wissen umgegangen und es so aufbereitet werden, dass jeweilige Grenzen sowie offenen Fragen und Kontroversen nicht geglättet werden, sondern als Ausgang für forschendes, suchendes Erschließen genutzt werden? Wie können im reflexiven Wissen um Nicht-Wissen und Nicht-Gelingen (z. B. auch Fehlern) verantwortbare Positionen gefunden werden? Diese Frage ist grundlegend für den Umgang mit Grenzen des Erwägenkönnens.

 

2. Welche Ihrer Forschungsergebnisse schätzen Sie als besonders relevant für die Praxis politischer Bildung ein?

Das Konzept einer Erwägungsorientierung steht für eine Forschungsorientierung und philosophische Haltung, die insgesamt weitreichende gesellschaftliche Folgen hat. Für die Praxis politischer Bildung sind aus dieser Perspektive Kritik am Beutelsbacher Konsens sowie Vorschläge für eine erwägungsorientierte (politische) Bildung relevant. Aus erwägungstheoretischer Sicht gilt eine Position als umso besser verantwortbar, je angemessener sie gegenüber zu erwägenden Alternativen als die (vorerst) geeignetere Position begründet werden kann. Will man diesen Begründungsbezug nicht verlieren, sind die erwogenen Alternativen zu bewahren und müssen auch anderen gegenüber angegeben werden können, damit diese die Begründungsgüte einschätzen können (Erwägungs-Geltungsbedingung). Da man aber nur weniges angemessen umfassend zu erwägen vermag, besteht die Herausforderung, reflexiv erwägen zu können, bei welchen Problemlagen ein umfassendes Erwägen relevant ist. Entscheidend ist, dass Erwägungsorientierung für jeweiliges reflexives Wissen im Umgang mit Nicht-Wissen sensibilisiert und damit vorsichtiger und korrekturbereiter im Umgang mit jeweiligen Positionen macht. 

Was dies für politische Bildung bedeutet, lässt sich gut am Beutelsbacher Konsens zeigen. Um nur einen Kritikpunkt aus erwägungstheoretischer Perspektive zu nennen: Es reicht nicht, nur das, was kontrovers in Politik und Wissenschaft ist, auch kontrovers im Unterricht zu diskutieren. Wenn es darum geht, dass gut begründbare Lösungen oder Positionen sich durchsetzen und realisiert werden können, ist es grundlegend, dass sie gegenüber zu erwägenden problemadäquaten Alternativen gut begründet werden können. Auch wenn es einen gesellschaftlichen Konsens etwa bezüglich bestimmter Werte oder Positionen geben mag, ist es wichtig, diesen nicht alternativlos zu vermitteln. Gerade dieser gesellschaftliche Konsens ist begründungspflichtig und in seiner Vermittlung bedarf es einer Auseinandersetzung mit den problemadäquaten Alternativen. Ansonsten besteht die Gefahr einer Überwältigung mit dem Konsens, die diesen dann schwächt, wenn er bloß übernommen wird und nicht mehr gegenüber zu erwägenden problemadäquaten, aber negativ bewerteten Alternativen verteidigt werden kann, so dass letztere leichter Anhänger*innen gewinnen können. 

 

3. Welche Themen im Kontext politischer Bildung sollten Ihrer Meinung nach beforscht werden? 

Als besonders relevant erachte ich die Erforschung individueller und gemeinsamer Entscheidungskompetenzen (insbesondere in Abgrenzung zu Abstimmungen) mit Blick auf Ermöglichung demokratieförderlicher Partizipation. Wie kann erwägungsorientiertes Denken in Möglichkeiten von Anfang an sowie eine Identität des distanzfähigen Engagements gefördert werden? Letztere bedeutet, dass man zwischen einer Erwägungs- und einer Lösungs- sowie Realisierungsebene zu unterscheiden vermag. Auf der Erwägungsebene strebt man nach einer Zusammenschau aller problemadäquaten Alternativen, was bedeutet, dass man sich auf dieser Ebene von seiner (bisher) vertretenen Position distanzieren muss. Auf der Erwägungsebene werden Kontroversen nicht in einem debattenartigen Schlagabtausch ausgetragen, sondern es wird gemeinsam an einer Integration der kontroversen Positionen gearbeitet, mit dem Ziel, gut begründbare Positionen zu finden. Auf der Lösungsebene und der Ebene, wo Positionen umgesetzt und realisiert werden, kann ein Wissen um die gute Begründung der eigenen Position gegenüber zu erwägenden Alternativen in ein besonderes Engagement für diese Position münden und auch bedeuten, dass man sich dafür einsetzt, dass erwogene, aber negativ bewertete Alternativen als Lösungen ausgeschlossen und nicht zugelassen werden. Als Erwägungen bleiben diese negativ bewerteten Alternativen aber wichtig und leisten ihren Beitrag zur Begründung der vertretenen Lösung bzw. Position. Grundlegend für eine Identität des distanzfähigen Engagements ist ein reflexives Wissen um Nicht-Wissen und die damit einhergehende Vorsichtigkeit im Umgang mit jeweiligen Positionen sowie Offenheit gegenüber möglichen Korrekturen. Sich korrigieren zu können, wird nicht als Gesichtsverlust betrachtet, sondern als Möglichkeit, zu einer besseren Position zu gelangen. Erwägungsorientierung und distanzfähiges Engagement führen zu einem anderen Umgang mit Nicht-Gelingen und Fehlern, was für Bildungsgänge, aber auch die Gesellschaft insgesamt, weitreichende Folgen hat. Dabei sind Bildungsgänge von Anfang an in den Blick zu nehmen. Denn die Anlage des Menschen, Entscheidungen treffen zu können und zu müssen, ist von klein auf gegeben. 

Für politische Bildung stellen sich hier also viele grundlegende Forschungsfragen, etwa zur Aufbereitung zu vermittelnder Konzepte und zur Gestaltung von Bildungsgängen. Unabhängig von diesen bildungsbezogenen Fragen stellt sich nicht zuletzt die gesamtgesellschaftliche Frage: Welche Institutionalisierungsweisen sind für die Bewahrung von jeweiligen Erwägungen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen (Medien, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft usw.) zu entwickeln?

 

4. Welchen Gewinn kann ein Dialog von Wissenschaft und Praxis und ein Austausch zwischen den Wissenschaftsdisziplinen für die politische Bildung bringen?

Aus erwägungstheoretischer Sicht ist Wissenschaft mit ihren Grundlagenfragen vom Kind aus zu konzipieren. Logische Grundlagenfragen (z. B. Widerspruch, Identität), die ihren Ausdruck etwa in Entscheidungen, Abstimmungen und Partizipation finden, stellen sich für alle Menschen von klein auf. Insofern sich komplexe Sachverhalte, Problemstellungen, Fragen nicht an disziplinäre Grenzen halten, und es beim erwägungsorientierten Bildungs- und Wissenschaftsverständnis immer auch um eine kritisch-reflexive Verortung im jeweiligen Nicht-Wissen geht, sind klärungsförderliche Auseinandersetzungen auf Inter- und Intradisziplinarität angewiesen.

 

5. Die Fachstelle politische Bildung hat eine Landkarte der Forschung zur politischen Bildung entwickelt, um Austausch und feldübergreifende Zusammenarbeit zu fördern, zwischen und innerhalb der Wissenschaftsdisziplinen sowie zwischen Wissenschaft und Praxis. Sie sind dort mit einem Eintrag vertreten. Über welche Kontaktaufnahmen oder Anfragen anderer Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen oder sonstiger Interessierter würden Sie sich freuen?

Ich würde mich über alle freuen, die Diversität als Kontroversität und Perspektivität in Forschungs-, Lehr- und Schulprojekten verfolgen und hierbei erwägungsmethodisch vorgehen wollen. 

 


Veröffentlicht am 27.02.2023


Zum Weiterlesen

  • Sie finden Bettina Blanck auch in der Landkarte der Forschung zur politischen Bildung mehr lesen


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