„Politische Bildung muss hin zu den abgehängten Milieus.“ Interview mit Dierk Borstel

Prof. Dr. Dierk Borstel ist Professor für praxisorientierte Politikwissenschaften an der Fachhochschule Dortmund. Im Gespräch mit der Transferstelle spricht er über seine Forschungsergebnisse sowie Praxiserfahrungen zum Thema Rechtextremismus und zieht Schlussfolgerungen für die politische Bildung.


Prof. Dr. Dierk Borstel

Prof. Dr. Dierk Borstel (Foto: privat)

Prof. Dr. Dierk Borstel ist Professor für praxisorientierte Politikwissenschaften an der Fachhochschule Dortmund. Im Gespräch mit der Transferstelle spricht er über seine Forschungsergebnisse sowie Praxiserfahrungen zum Thema Rechtextremismus und zieht Schlussfolgerungen für die politische Bildung.

Transferstelle politische Bildung: Was können Sie aufgrund Ihrer Forschung zu den Ursachen von Rechtsextremismus sagen?

Dierk Borstel: Wenn man sich rechtextrem geprägte Biografien anschaut, wird man häufig feststellen, dass nicht alle Theorien und Ursachendiskurse zu Desintegration, Deprivation, Autoritarismus etc. tatsächlich tragen. Viele bieten Erklärungen für einzelne Aspekte, und bezogen auf einzelne Personen führen sie auch zu interessanten Ergebnissen. Schließlich aber sind es sehr individuelle biografische Verläufe, die einen Menschen zu dem machen, was er ist.

TpB: Welche Erklärungsansätze haben Sie stattdessen?

DB: Ich würde gerne über einen biografisch-empirischen Weg mit Einstiegsmustern von Rechtsextremen anfangen. Es gibt mehrere Muster, die zwar individuell variieren, sich aber wiederholen. Ein Einstiegsmuster ist das über die Familie, meist im Kleinkindalter, beispielweise die Erfahrung von Kindern in rechtsextrem geprägten Familien. Das ist sicherlich eine kleine, aber bedeutende Gruppe, vor allem wenn es um die Arbeit mit ihnen geht. Diese Kinder und Jugendliche erleben Rechtsextremismus nicht als das Besondere, das Abzulehnende und das Feindliche, sondern als Normalität. Das stellt eine Praxis, zum Beispiel die der Sozialen Arbeit, vor große Herausforderungen. Die Fachkräfte werden dann als Feinde wahrgenommen und müssen das ganze Denkgebäude des Gegenübers umdrehen.

Für die meisten, mit denen ich in meinen Forschungen konfrontiert war, passt ein Einstiegsmuster am Beginn oder in der Anfangsphase der Pubertät, also im Alter zwischen elf und fünfzehn Jahren. Früher erfolgte der Einstieg oft klassisch über die Peergroup. Dieser Zugang wird inzwischen zunehmend durch das Internet abgelöst. Die direkte Ansprache ist immer noch sehr wichtig, sie wird aber zum Teil von Kommunikationsbeziehungen über die sozialen Communities wie Facebook übernommen. Die Gründe, warum sich vor allem Jugendliche einlassen, sind sehr unterschiedlich. Ihnen gemein ist aber, dass es immer eine Form der Ansprache gibt. Das kann das vermittelte Gefühl der Kameradschaft oder Gruppe sein, ein vermitteltes Gefühl der Provokation, der Stärke oder der Gewalt. Meist gibt es auch ein Lockmittel, für das es in der bisherigen Biografie einen Anknüpfungspunkt geben muss. Der Erfahrung nach dauert es in der Praxis dann circa drei bis sechs Monate – wenn dann nicht interveniert wird, wachsen diese Jugendlichen in die Szene rein. Sie werden in eine Gruppe integriert und erhalten dort Aufgaben. Die Einbindung erfolgt oft durch einfache Dinge und kleinere, gezielt eingesetzte Anerkennungsmomente.

Das dritte Einstiegsmuster betrifft häufig bildungsmäßig Höhergestellte, wie Abiturienten, Studierende, zum Teil auch Lehrkräfte. Diese Menschen finden den Weg zur Vorstellung eines nationalen Sozialismus zum Beispiel über die Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Realitäten. Es ist dann der Hass auf das System, auf die Form des Kapitalismus, in dem wir leben, auf die Bigotterie, die der bürgerlichen Lebensweise inne ist. Das sind Menschen, die häufig auch die sozialen Probleme unseres Systems kritisieren und auf der Suche nach Sinnlösung sind. Und diese Sinnlösung finden sie dann häufig in sehr romantisierenden sozialistischen, nationalistischen oder völkischen Vorstellungen.

Diese drei Einstiegsmuster liegen etwas quer zu den klassischen Theorien, finden sich in den Biographien aber sehr häufig wieder.

TpB: Sie haben davon gesprochen, dass das Internet die Peergroup ablöst. Können Sie das noch etwas weiter ausführen?

DB: Der moderne Rechtextremismus ist tatsächlich modern. Das Internet, vor allem die sozialen Communities, spielen insgesamt heute im Jugendalter eine andere Rolle als noch vor drei, vier Jahren. Und diese werden auch in rechten Szenen viel selbstverständlicher als Kommunikations-, Austausch- und als Kontaktmittel genutzt. Früher war es noch nötig sich persönlich zu treffen, das setzte eine gewisse räumliche Nähe voraus, insbesondere in einem Alter mit geringerer Mobilität aufgrund fehlenden Führerscheins. Diese Distanzen werden heute durch das Netz überwunden. Und natürlich suchen Rechtsextreme im Netz auch sehr gezielt nach Profilen und Andockungspunkten, zum Beispiel über Facebook. Anknüpfungspunkte sind zum Beispiel Musikvorlieben, Konflikte, vor allem aber auch Einsamkeit, die sich aus vielen Profilen relativ schnell rauslesen lässt. Über Profile ergibt sich  eine Zielgruppe, die gezielt angesprochen, gelockt, eingebunden und eingeladen wird. Und die Versprechen der Szene – Bedeutung, Kameradschaft, Stärke, Überlegenheit, aber auch ein Ventil des Hasses zu bieten auf all das, was einem bisher das Leben angeblich schwergemacht hat – sind dann dankbare Anknüpfungspunkte. 

TpB: Was können Sie zu den Grundmotivationen sagen, sich einer solchen Szene anzuschließen?

DB: Es gibt drei Grundmotivationen, ich nenne diese „Zahnräder“. Eines dieser Zahnräder ist die Form der Gewalt. Menschen mit einem hohen Gewaltbedürfnis oder auch mit einer hohen Frustration brauchen häufig eine Ideologie zur Legitimation ihrer Opfer.  Es gibt Andere, die kommen in die Szene vor allem wegen des Versprechens der Zusammengehörigkeit und der Kameradschaft. Sie akzeptieren dann die Gewalt, die ja immer immanent ist, diese ist es aber nicht, die sie hineingetrieben hat. Und dann gibt es ein drittes „Zahnrad“, das eher die ideologische, die verkopfte Front bildet. Die Akteure sind meist rhetorisch begabt und führen die Gruppe aus einer ideologischen Überzeugung heraus. Das sind häufig auch die, die nicht selber schlagen, weil sie etwas cleverer sind.

Alle drei Triebwerkzeuge und Grundmotivationen gehören zusammen und hängen wie Zahnräder ineinander. Sie sind je nach Biografie unterschiedlich groß. Das erklärt auch, warum es den einen Rechtsextremisten und die eine Erklärung nicht gibt, sondern ganz unterschiedliche Typen, Formationen, Ziele und auch Erscheinungsformen.

TpB: Welche Konsequenzen sollte die politische Bildung aus Ihren Forschungsergebnissen ziehen?

DB: Ich habe zu unterschiedlichen Themen geforscht und die Konsequenzen sind sehr unterschiedlich.
Zum Thema ländliche Räume kann ich Folgendes sagen: Wir haben gewisse „Modellregionen“ des Rechtsextremismus im peripheren ländlichen Raum. Dort ist politische Bildung eine von vielen Antworten, wenn sie anfängt, sprachfähig zu werden. Sie können in den Dörfern eine Demokratieausstellung machen, einen schönen Film zeigen oder einen Professor einladen, der etwas erzählt mit vielen Folien. Das bringt alles gar nichts oder wenig, weil es nur diejenigen erreicht, die von Bildung im Sinne von Demokratiebildung eh schon überzeugt sind. Politische Bildung muss stattdessen dort neu denken und vor allem auf Kommunikation und Zuhören setzen. Das sind die Voraussetzungen, um diese abgehängten und abwärtsdriftenden ländlichen Regionen überhaupt zu begreifen und die Probleme zu erkennen. Und sie muss dann auch die vielen vorhandenen Ideen aufgreifen und sie in Projekte oder Strategien übersetzen.

Ein zweites Stichwort ist für mich Radikalisierung. Wir haben sehr viele tolle Projekte, Konzepte etc. für den Bereich der primären Prävention. Ich habe großen Respekt vor dem, was alles entwickelt und getan wird. Das Problem ist aber: Was machen wir mit denjenigen, die genau von solchen Projekten nicht mehr erreicht werden, weil sie sich eigentlich schon von der Demokratie verabschiedet haben? Für die braucht es eher aufsuchende Formen von politischer Bildung. Das heißt, wir müssen hin zu den abgehängten Milieus. Wir müssen reingehen in die brennenden Stadtteile, in die abgehängten Regionen. Und auch hier ist es wichtig nicht mit fertigen Konzepten zu kommen, sondern erst einmal zuzuhören, die Menschen ernst zu nehmen, Vertrauen aufzubauen und über dieses Vertrauen die Frage stellen: Was wollen die Menschen eigentlich? Das ist eine der entscheidenden Fragen, wenn es um die Zukunft von Demokratie geht. Gelingt es uns Demokratie wieder mehrheitsfähig zu machen, in dem Sinne, dass die Mehrheit sich beteiligt?  Wie stellen wir wieder Kommunikation mit ihnen her, um darüber Deradikalisierung zu fördern und sie für Bildung und demokratische Werte zu gewinnen?

TpB: Denken Sie, dass die Arbeit mit Brückenmenschen in der politischen Bildung erfolgreich sein kann?

DB: Ja, natürlich kann die Arbeit mit Brückenmenschen erfolgreich sein. Es gibt allerdings sehr unterschiedliche Orte und da muss man dann sehr lokal und kleinspezifisch vorgehen. Mit Brückenmenschen zu arbeiten hilft meiner Erfahrung nach dabei. Je aufsuchender, je dichter dran an den Lebenswelten, je geringer die Distanzen, auch die rein räumlichen Distanzen, je niedrigschwelliger das Angebot ist, desto einfacher ist es, in Kommunikation zu treten. Kommunikation ist die Voraussetzung für all das, was dann folgt. Mein Eindruck ist, und das meine ich durchaus auch selbstkritisch, dass wir uns viel zu häufig an gut sichtbaren Orten von Städten und Gemeinden „verstecken“. Wir vergessen, wie hoch für viele Menschen die Hürde sein kann, in ein Bürgerhaus, eine Schule oder in einen Jugendclub zu gehen.

TpB: Was ist Ihrer Meinung nach wichtig für einen guten Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis politischer Bildung? Wenn es zum Beispiel eine Problematik in einer Gemeinde oder Kommune gibt, würden Sie dann dafür plädieren, eine Art Runden Tisch mit Wissenschaftler_innen und Praktiker_innen einzurichten, um einen Austausch anzuregen?

DB: Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen in der Praxis und in der Wissenschaft würde ich sagen: Das Wichtigste für die Zusammenarbeit sind regelmäßige und vertrauenswürdige Kommunikation, Augenhöhe und großer Respekt von beiden Seiten. Kollegen, die das können und Übertragungen oder konstruktive theoretische Erklärung bieten können, sind ein wirklicher Gewinn. Aber es gelingt tatsächlich nur, wenn sie sich auf die Situation vor Ort einlassen und nicht einfach ihre Lehrbücher wiederholen.

 

Veröffentlicht am 23. Mai 2016



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