„Politische Bildung ist mehr als ein ‚Anhängsel‘ des Geschichtsunterrichts.“ Fünf Fragen an Julia Thyroff

Dr.in Julia Thyroff ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum Politische Bildung und Geschichtsdidaktik der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz, das Teil des Zentrums für Demokratie Aarau (ZDA) ist. Im Interview berichtet sie über die seit einigen Jahren flächendeckende Verankerung Politischer Bildung in der Sekundarstufe I in der Deutschschweiz und in welchem Verhältnis sie Politische Bildung zum Geschichtsunterricht sieht.


Dr.in Julia Thyroff (Foto: Fachhochschule Nordwestschweiz)

Dr.in Julia Thyroff ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum Politische Bildung und Geschichtsdidaktik der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz, das zugleich Teil des Zentrums für Demokratie Aarau (ZDA) ist. Im Interview berichtet sie über die seit einigen Jahren flächendeckende Verankerung Politischer Bildung in der Sekundarstufe I in der Deutschschweiz und in welchem Verhältnis sie Politische Bildung zum Geschichtsunterricht sieht.

1. Was ist Ihr aktuelles Projekt im Bereich  politischer Bildung?

Derzeit entwickle ich gemeinsam mit Manuel Hubacher (ebenfalls in der Landkarte der Forschung zu politischer Bildung zu finden) zwei E-Lessons zu Grundlagen der Politischen Bildung. Damit wollen wir Lehrpersonen in der Einführung Politischer Bildung unterstützen. Hintergrund ist der neue Deutschschweizer Lehrplan 21, der seit einigen Jahren Politische Bildung auf Sekundarstufe I flächendeckend verankert (in den meisten Kantonen als Teil des Integrationsfachs Räume Zeiten Gesellschaften) und viele Lehrpersonen nun vor die Herausforderung stellt, neu und fachfremd Politische Bildung zu unterrichten. Unsere entstehenden E-Lessons eignen sich sowohl für das Selbststudium wie auch für den künftigen Einsatz in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen. Sie bilden eine Erweiterung des bereits bestehenden Webangebot PB-Tools, auf dem wir frei zugängliche Unterrichtseinheiten sowie fachliche und fachdidaktische Hintergrundtexte zu diversen Themen der Politischen Bildung anbieten, um Lehrpersonen einen niederschwelligen Einstieg in die Politische Bildungzu ermöglichen.

 

2. Welche Ihrer Forschungsergebnisse schätzen Sie als besonders relevant für die Praxis politischer Bildung ein?

Im Forschungsprojekt „Politische Bildung im fächerübergreifenden Unterricht mit Geschichte auf Sekundarstufe I“ (2016-2020, gefördert vom Schweizerischen Nationalfonds) haben wir untersucht, vor welchen Herausforderungen Sek I-Lehrpersonen in der Deutschschweiz bei der Einführung Politischer Bildung stehen. Im Rahmen von Unterrichtsbeobachtungen bei zehn Lehrpersonen haben wir unter anderem herausgefunden, dass im Verhältnis noch eher selten die selbstständige politische Urteils- und Handlungskompetenz von Lernenden im Zentrum von Unterrichtsarrangements steht. Unter den erteilten Arbeitsaufträgen waren solche am häufigsten, die auf die Entnahme von Sachaussagen aus Medien, also letztlich auf deklarativen Wissenserwerb abzielten (zur Publikation). Auf Basis dieser Befunde ermuntern wir Lehrpersonen, kompetenzorientierten Settings und gerade der Anbahnung von Urteils- und Handlungskompetenz noch mehr Gewicht zu geben.


3. Welche Themen im Kontext politischer Bildung sollten Ihrer Meinung nach beforscht werden?

Aktuell wissen wir noch wenig darüber, wie mit Schüler*innen systematisch Argumentations- und Urteilskompetenz aufgebaut und trainiert werden kann. An diesem Problem arbeitet derzeit ein weiteres Projekt unseres Zentrums („Argumentieren und Urteilen in der Politischen Bildung“). Ziel ist es, ein Argumentationstraining für die Sekundarstufe I (Klasse 7-9) zu entwickeln und zu erproben.
Daneben interessiert mich die Schnittstelle zwischen historischem und politischem Lernen. Beide Fächer fordern eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlich umstrittenen Gegenständen. Die Auseinandersetzung mit Fragen der Geschichtskultur (z.B. mit umstrittenen Denkmälern und Straßennamen, dominanten vs. marginalisierten Narrativen und den damit verbundenen Fragen von Macht, Öffentlichkeit und Sichtbarkeit) bietet sich exzellent an, Anliegen der Geschichte und der Politischen Bildung zu verbinden. In unserem Onlineangebot PB-Tools greifen wir in mehreren Unterrichtseinheiten Konflikte um Denkmäler auf.
 

4. Welchen Gewinn kann ein Dialog von Wissenschaft und Praxis und ein Austausch zwischen den Wissenschaftsdisziplinen für die politische Bildung bringen?

In der Deutschschweiz wird Politische Bildung traditionell als „Add-on“ der Geschichte betrachtet. In der Sekundarstufe II wird Politische Bildung in vielen Schulformen von Geschichtslehrpersonen mit unterrichtet. In der Sekundarstufe I ist sie in den meisten Kantonen Teil des Integrationsfachs Räume Zeiten Gesellschaften (RZG). So bedeutsam historische Bezüge für die Politische Bildung sind, ist es mir ein Anliegen, Politische Bildung nicht nur als „Anhängsel“ des Geschichtsunterrichts, sondern stärker in ihrer Eigenlogik mit eigenen fachdidaktischen Anliegen und Konzepten sichtbar zu machen. Hinzu kommt, dass für Politische Bildung neben der Geschichte weitere Bezugsdisziplinen relevant sind. Am Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) haben wir die einmalige Chance, dass Geschichts- und Politikdidaktik sowie Rechts- und Politikwissenschaften unter einem Dach arbeiten. Unsere Unterrichtseinheiten und Hintergrundtexte, die wir für unsere Webplattform PB-Tools erarbeitet haben, fußen auf einer Zusammenarbeit dieser Abteilungen. So konnten wir beispielsweise in die Erarbeitung des Unterrichtsgegenstands „Menschenrechte“ auch rechtswissenschaftliche Expertise einbeziehen, die in den klassischen Ausbildungsgängen für Lehrpersonen in der Regel nicht abgedeckt wird.

 

5. Die Fachstelle politische Bildung hat eine Landkarte der Forschung zur politischen Bildung entwickelt, um Austausch und feldübergreifende Zusammenarbeit zu fördern, zwischen und innerhalb der Wissenschaftsdisziplinen sowie zwischen Wissenschaft und Praxis. Sie sind dort mit einem Eintrag vertreten. Über welche Kontaktaufnahmen oder Anfragen anderer Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen oder sonstiger Interessierter würden Sie sich freuen?

Besonders freuen würde ich mich über Rückmeldungen von Lehrpersonen, die die Unterrichtsvorschläge unseres Angebots PB-Tools ausprobiert haben.

 

Veröffentlicht am 04.06.2024

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