„Eine bessere Strukturförderung von Jugendarbeit und politischer Jugendbildung würde bestimmte thematisch enggeführte Sonderprogramme und „Benachteiligtenprogramme“ obsolet machen.“ Fünf Fragen an Andreas Thimmel

Prof. Dr. Andreas Thimmel ist Professor an der TH Köln und leitet dort den Forschungsschwerpunkt „Nonformale Bildung“ und das Institut für Kindheit, Jugend, Familie und Erwachsene (KJFE). Er ist Inhaber eines dreijährigen Jean-Monnet-Lehrstuhls „Bildung und Jugendarbeit in Europa". Im Interview berichtet er über seine aktuellen Projekte und fordert eine grundlegende politische Jugendbildungsforschung mit interdisziplinärem Forschungsansatz.


Prof. Dr. Andreas Thimmel (Foto: privat)

Prof. Dr. Andreas Thimmel ist Professor an der Technischen Hochschule Köln und leitet dort den Forschungsschwerpunkt „Nonformale Bildung“ und das Institut für Kindheit, Jugend, Familie und Erwachsene (KJFE). Er ist Inhaber eines dreijährigen Jean-Monnet-Lehrstuhls „Bildung und Jugendarbeit in Europa". Im Interview berichtet er über seine aktuellen Projekte und fordert eine grundlegende politische Jugendbildungsforschung mit interdisziplinärem Forschungsansatz.


1. Was ist Ihr aktuelles und was war Ihr letztes Forschungsprojekt zur politischen Bildung?

Seit einigen Jahren führe ich ein konzeptionelles Lehr-Lern-Projekt mit dem Titel „Politische Informiertheit als Teil politischer Bildung und als Hintergrundfolie für Soziale Arbeit und Bildungsarbeit“ durch. Das Konzept antwortet auf das Unbehagen vieler Studierender und Fachkräfte im Bildungs- und Sozialbereich im Hinblick auf ihr eigenes politisches, insbesondere medial vermitteltes und erarbeitetes Hintergrundwissen. Es geht darum, die eigene „Landkarte“ politischer Informiertheit durch publizistische, politikwissenschaftliche und fachwissenschaftliche Wissensbestände und Wissenszugänge zu erstellen. Die Landkarte politischer Bildung beruht auf einem professionellen Kontextwissen, mit dem mediale Informationen und politische Fakten und Diskurse einzuordnen sind, sodass die Nutzer_innen autonom über ihre Informationsquellen entscheiden können. Dieses Konzept orientiert sich an den aktuellen Debatten und systematischen Fragen in lokaler, regionaler, nationaler, europabezogener und globaler Perspektive sowie an sozialphilosophischen und normativen Grundsätzen.


In den letzten drei Jahren habe ich in einem Forschungsprojekt mit anderen Kolleg_innen, einschließlich Frau Dr. Helle Becker, an der Frage möglicher struktureller Zugangsbarrieren zu den Aktivitäten der Internationalen Jugendarbeit gearbeitet. Die „Zugangsstudie zum internationalen Jugendaustausch“ (Becker/Thimmel 2019) hat unter anderem ein prinzipielles Interesse einer übergroßen Mehrzahl von Jugendlichen in Deutschland an internationalen Aktivitäten in Schule und Jugendarbeit belegt (repräsentative Teilstudie). Damit wurde ein populäres Vorurteil, dass nicht privilegierte Jugendliche an bildungsorientierter Auslandsmobilität nicht interessiert seien, zurückgewiesen. Als zentrale Hindernisse gelten stattdessen organisatorische und finanzielle Themen sowie eine hochschwellige Narration über Europa, internationale Bildung und die dafür notwendige Voraussetzung von schulisch guten Fremdsprachenkenntnissen. Es fehlen adäquate Informationen über Möglichkeiten der Internationalen Jugendarbeit und Kooperationsaktivitäten zwischen Schule (Schüler_innenaustauch) und Jugendarbeit. Die Begrenztheit der Angebote und der vermeintliche Distinktionsgewinn bei einem internationalen Austausch, insbesondere im formalen Bildungswesen, führen zu einer Teilnahmepraxis, die gesellschaftliche Positionierung reproduziert und nicht privilegierte Jugendliche oft benachteiligt. Aus den Ergebnissen lässt sich die Forderung ableiten, Internationale Jugendarbeit (wieder) von der Jugendarbeit her zu denken und internationale Bildungsarbeit als Querschnittsbereich personell und finanziell besser als bisher auszustatten sowie Formate und Strukturförderung für internationale Partnerschaften zu flexibilisieren.


2. Welche Ihrer Forschungsergebnisse halten Sie für besonders relevant für die Praxis politischer Bildung?

Viele Ergebnisse der Zugangsstudie zur Internationalen Jugendarbeit lassen sich auch auf die politische Jugendbildung beziehen. Ein erster Schritt wäre eine vergleichbare Studie über Zugangsbarrieren für Jugendliche, was die Themen und Strukturen von Politik und außerschulischer politischer Bildung betrifft. Ich kann mir gut vorstellen, dass ein „Benachteiligungsdiskurs“ und die häufig zielgruppenbezogene Praxis den Blick darauf verstellen, dass eine Stärkung der politischen Dimension in der Jugendarbeit und zugleich eine bessere Strukturförderung von Jugendarbeit und politischer Jugendbildung bestimmte thematisch enggeführte Sonderprogramme und „Benachteiligtenprogramme“ obsolet machen würden.


3. Welche Themen im Kontext politischer Bildung sollten Ihrer Meinung nach beforscht werden?

Die politische Bildung im nonformalen Bildungsbereich reagiert auf aktuelle Anforderungen mit methodischer Professionalität und thematischer Breite, auf politische Ereignisse, gesellschaftlich relevante Themen und zentrale fachliche Kernthemen, auf strukturelle Veränderung durch neue administrative Vorgaben, Veränderung der Finanzbasis und neue Förderrichtlinien. Notwendig ist eine der Differenziertheit dieses Feldes adäquate wissenschaftliche Analyse und Befassung, aus der dann auch Forschungsprojekte mit dem Anspruch der Grundlagenforschung entstehen können. Neben Dauerbeobachtung und spezifischer Praxisforschung ist eine bisher kaum vorhandene, weil nicht finanzierte und in den bisherigen wissenschaftlichen Fördertöpfen nicht berücksichtigte, grundlegende politische Jugendbildungsforschung nötig. Deshalb sind die Struktur- und Anerkennungsfragen der nonformalen politischen Bildung das aktuell wichtigste Thema.


4. Welchen Gewinn für die politische Bildung kann ein Dialog von Wissenschaft und Praxis bringen sowie ein Austausch sowohl zwischen den Wissenschaftsdisziplinen als auch innerhalb dieser?

Wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn im Feld pädagogischer Praxis beruht auf Formen dialogischer Kommunikation zwischen den Akteur_innen aus Wissenschaft und Praxis, im Wissen um die Differenz und Eigenständigkeit der beiden Bereiche. Politische Jugendbildung erfordert aufgrund der Vielfalt der zu bearbeitenden Themen einen interdisziplinären Forschungsansatz. Ich argumentiere aus der Perspektive der politischen Jugendbildung als Gegenstand der Jugendarbeitsforschung, die wiederum Subdisziplin der Sozialen Arbeit und der Erziehungswissenschaft ist. Die interdisziplinäre Erweiterung in Bezug auf andere Disziplinen ist dabei für mich konstitutiv.


5. Die Fachstelle politische Bildung hat eine Landkarte der Forschung zur politischen Bildung entwickelt, um Austausch und feldübergreifende Zusammenarbeit zu fördern: zwischen und innerhalb der Wissenschaftsdisziplinen, aber auch zwischen Wissenschaft und Praxis. Sie sind dort mit einem Eintrag vertreten. Über welche Kontaktaufnahmen oder Anfragen anderer Wissenschaftler_innen, Praktiker_innen oder sonstiger Interessierter würden Sie sich freuen?

Ich arbeite im Kontext der unterschiedlichen nonformalen Bildungsbereiche: Jugendarbeit, Freiwilligendienste, Jugendsozialarbeit sowie Kooperation zwischen Schule und Jugendarbeit. Auf der Grundlage dieser Strukturperspektive würde ich mich freuen, wenn ich Anfragen von Kolleg_innen erhalte, die, z.B. aus einer historischen, einer politikwissenschaftlichen, medienwissenschaftlichen, ökologischen, rassismuskritischen Perspektive heraus, die Zusammenarbeit suchen und damit die Notwendigkeit der Beachtung der Eigenlogiken der unterschiedlichen Felder der außerschulischen politischen Jugendbildung als zentralen Aspekt jeglicher Forschung in diesem Bereich sehen.


Veröffentlicht am 22.06.2020


Zum Weiterlesen

  • Sie finden Andreas Thimmel in der Landkarte der Forschung zur politischen Bildung.
  • Interview von Andreas Thimmel mit Jugend für Europa zum Jean-Monnet-Lehrstuhl (auf Englisch) mehr lesen
  • Becker, Helle / Thimmel, Andreas(Hrsg.) (2019): Die Zugangsstudie zum internationalen Jugendaustausch. Zugänge und Barrieren. Wochenschau Verlag. mehr lesen
  • Kurzfassungen zur „Zugangsstudie“ gibt es in Form von zwei Broschüren mehr lesen
  • Datenbankeintrag: Thimmel, Andreas / Riß, Katrin (2006): Evaluationsbericht zum GEMINI-Verbundprojekt „Politik und Partizipation in der Ganztagsschule“. mehr lesen
  • Datenbankeintrag: Chehata, Yasmine / Thimmel, Andreas (Hrsg.) (2011): Politische Jugendbildung und Schule. Voraussetzungen und Wege gelingender Kooperation. mehr lesen
  • Datenbankeintag: Thimmel, Andreas / Chehata, Yasmine / Riß, Katrin (2011): Interkulturelle Öffnung der Internationalen Jugendarbeit. Gesamtbericht der wissenschaftlichen Begleitung zum Modellprojekt JiVE „Jugendarbeit international - Vielfalt erleben“. mehr lesen
  • Datenbankeintrag: Thimmel, Andreas / Chehata, Yasmine (Hrsg.) (2015): Jugendarbeit in der Migrationsgesellschaft. Praxisforschung zur Interkulturellen Öffnung in kritisch-reflexiver Perspektive. mehr lesen


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