„Auch in der politischen Bildung wird Inklusion kein Selbstläufer sein.“ Interview mit Christoph Dönges

Dr. Christoph Dönges ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sonderpädagogik der Universität Koblenz-Landau. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, wie eine Didaktik der inklusiven politischen Bildung aussehen kann, was das konkret für die Konzeption von politischen Bildungsveranstaltungen bedeutet und welche empirischen Forschungsbefunde es hierzu bereits gibt.


Dr. Christoph Dönges (Foto: privat)

Dr. Christoph Dönges (Foto: privat)

Dr. Christoph Dönges ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sonderpädagogik der Universität Koblenz-Landau. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, wie eine Didaktik der inklusiven politischen Bildung aussehen kann, was das konkret für die Konzeption von politischen Bildungsveranstaltungen bedeutet und welche empirischen Forschungsbefunde es hierzu bereits gibt.

 

Transferstelle politische Bildung: Herr Dönges, Sie arbeiten am Institut für Sonderpädagogik der Universität Koblenz-Landau. Welche Rolle spielt politische Bildung in Ihrer Arbeit?

Christoph Dönges: Wenn ich meiner Arbeit eine Überschrift geben sollte, dann wäre das „Bildung von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung“. Das ist natürlich ein sehr weites Feld, das verschiedene Inhaltsbereiche und Fächer berührt. Innerhalb dieses Spektrums haben sich bei mir Leitfragen herauskristallisiert und da spielt auch politische Bildung eine Rolle. Bei der Bildung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen geht es darum, einem sogenannten reduzierten Bildungsverständnis entgegenzuwirken und sich die Frage zu stellen, wie man anspruchsvolle und schwierige Inhalte auch für diese Menschen zugänglich machen kann. Das gilt natürlich auch für politische Inhalte. Es geht mir also um außerschulische politische Bildung. Aber auch in meiner universitären Lehre ist politische Bildung ein wichtiges Thema, damit auch angehende Förderschullehrer_innen dafür sensibilisiert werden. Sie sollen Kompetenzen zur Realisierung von politischer Bildung in heterogenen Gruppen entwickeln.

TpB: Sie haben die Publikation „Didaktik der inklusiven politischen Bildung“ mit herausgegeben. Wie kann eine solche Didaktik aussehen?

CD: Das ist insofern eine schwierige Frage, als eine Didaktik der inklusiven politischen Bildung noch in der Entstehung ist. Aber ich glaube, dass eine Didaktik der inklusiven politischen Bildung nicht komplett neu erfunden werden muss. Wir können andererseits auch nicht einfach so weitermachen. Es gibt ja Vertreter_innen, die sagen, dass die politische Bildung eigentlich schon immer inklusiv war, weil sie sich schon immer mit heterogenen Anforderungen auseinandergesetzt hat. Ich denke, das greift zu kurz und erinnert etwas an die Situation in der Grundschule.

TpB: Wie meinen Sie das?

CD: Die Grundschule ist seit ihrer Gründung in der Weimarer Republik explizit als eine Schule für alle Kinder ausgewiesen und hat daher auch im Umgang mit Kindern aus unterschiedlichen Schichten eine lange erfolgreiche Tradition. Kinder mit Behinderung wurden bei der Formulierung „Schule für alle“ allerdings nie mitgedacht. In den aktuellen Entwicklungen sieht man, dass Kinder mit Behinderungen das Heterogenitätsspektrum enorm erweitern und dass auch in dieser Schulform Inklusion kein Selbstläufer ist. Ich denke, dass das auch anlog für die politische Bildung gilt, auch hier wird Inklusion kein Selbstläufer sein.

TpB: Was sollte aus Ihrer Sicht dafür getan werden?

CD: Meiner Meinung nach sollte die Expertise der Politikdidaktik mit der sonderpädagogischen Expertise verbunden werden. Wenn man die entsprechenden Gruppen kennt, kann man die Barrieren besser erkennen. Hier könnte viel von sonderpädagogischer Seite eingebracht werden.

Sonderpädagog_innen könnten außerdem ihr Wissen um Aneignungsmöglichkeiten, die solche Bildungsbarrieren überwinden können, einbringen. Um Zugangsmöglichkeiten auch für Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen zu ermöglichen, muss man wissen, wie Bildungsprozesse elementarisiert und auf das Wesentliche  konzentriert werden können.

Es ist außerdem wichtig, zwischen den verschiedenen Feldern zu unterscheiden. Eine inklusive politische Bildung muss meiner Ansicht nach beispielsweise in der Schule und in der Erwachsenenbildung unterschiedlich ausgerichtet sein.

TpB: Haben Sie dafür ein Beispiel?

CD: Für mich spielt die Demokratieerziehung in der Schule eine ganz zentrale Rolle. Sie eröffnet auch konkrete innerschulische Beteiligungsmöglichkeiten für Kinder mit Behinderung. In der Erwachsenenbildung ist eine solche Verkürzung auf eher soziales Lernen mit der Gefahr verbunden, dass innerhalb der jeweiligen Einrichtung mal ausprobiert wird, an demokratischen Strukturen zu partizipieren, es aber nicht über diese abgeschlossenen Sozialräume hinausgeht.

TpB: Sie haben für die Bundeszentrale für politische Bildung die wissenschaftliche Veranstaltungsbeobachtung der Reihe „Politik einfach verstehen“ übernommen. Worum ging es dabei?

CD: Die Veranstaltungsreihe war eine Maßnahme im Vorfeld der Bundestagswahl 2013. Das übergeordnete Ziel war, die politische Teilhabe, auch die an der Bundestagswahl, von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen zu fördern. Die Veranstaltungen fanden in ganz Deutschland an verschiedenen Orten statt, immer in Verbindung mit Trägern der Behindertenhilfe. Die Veranstaltungen selbst waren in zwei Phasen gegliedert. In der ersten Phase bekamen Bewohner_innen von Einrichtungen der Behindertenhilfe in einem Workshop Hintergrundinformationen zum Thema Bundestagswahl, aber auch Informationen zum Ablauf der Bundestagswahl. Es wurde hier vor allem mit dem Mittel der „Leichten Sprache“ kommuniziert. Innerhalb dieses Workshops wurden auch Fragen an Politiker_innen formuliert. Im zweiten Teil der Veranstaltungen fand eine Podiumsdiskussion statt, bei der sich Kandidat_innen der verschiedenen Parteien des jeweiligen Wahlkreises den Fragen der Menschen mit Beeinträchtigungen gestellt haben.

TpB: Welche Erkenntnisse können Sie aus der Beobachtung für die Praxis politischer Bildung ableiten?

CD: Ein Ergebnis war sehr offensichtlich, nämlich die Problematik der Heterogenität der Teilnehmenden. Mit der pauschalen Bezeichnung „Menschen mit Behinderung in Einrichtungen der Behindertenhilfe“ sagt man eigentlich noch gar nichts aus, weil die Menschen, die dort leben, sehr unterschiedliche Bedarfe haben. Wenn ich politische Bildung für diesen Personenkreis anstrebe, muss ich das auf jeden Fall beachten.

TpB: Können Sie Beispiele geben, was bei der Konzeption von politischen Bildungsangeboten beachtet werden sollte?

CD: Nehmen wir beispielsweise eine Einrichtung, in der Menschen mit einer Körperbehinderung, aber keinerlei kognitiver Beeinträchtigung leben oder Menschen, die aufgrund einer psychischen Erkrankung innerhalb dieses geschützten Bereichs sind. Für diesen Personenkreis ist Leichte Sprache eine Diskriminierung. Es gab bei den von mir beobachteten Veranstaltungen aber auch Menschen, die aufgrund einer Körperbehinderung eine ganz massiv beeinträchtige Sprechmotorik hatten. Sie hatten keinerlei kognitive Beeinträchtigung, waren aber darauf angewiesen, mit sogenannten Talker zu kommunizieren, also elektronischen Sprachausgabegeräten oder Kommunikationstafeln. Das bedeutet dann, dass es lange dauert, wenn sie ihre Fragen stellen oder Beiträge einbringen, dafür braucht man also sehr viel mehr Zeit. Es gab aber auch Gruppen, die durchaus von einer Elementarisierung der Inhalte profitiert haben und auch davon, dass mit Leichter Sprache gearbeitet wurde. Daneben gab es Menschen, die aufgrund des Grades ihrer kognitiven Beeinträchtigung auch damit noch überfordert waren und die auch ihre eigenen Beiträge nicht in der für uns gewohnten Form, wo es um logische, schlüssige Aussagen geht, formulieren konnten. Diese Äußerungen wirken dann für Außenstehende eher wie ein assoziativer Beitrag, der schwer zu verstehen ist. Hier müsste es für diese Personen eine dolmetschende Assistenz geben. Das sind alles Dinge, die ich beachten muss, wenn ich Angebote für diesen Personenkreis konzipieren will.

Es wurde außerdem deutlich, dass bei diesen inklusiven Veranstaltungen sehr schnell Menschen ohne kognitive Beeinträchtigung die Dominanz in den Workshops und den Podiumsdiskussionen übernommen haben. Es trauten sich dann einige nicht mehr, ihre Fragen zu stellen, die sie vorher formuliert hatten. Das ist auch etwas, das man für inklusive Bildungsveranstaltungen wissen muss. Es geht um die Bereitstellung von spezifischer Unterstützung, wenn ich ein entsprechendes Angebot unterbreiten will.

TpB: Zu welchen Ergebnissen sind Sie noch gekommen?

CD: Eine weitere interessante Beobachtung war, auf welche Politikbereiche die Fragen der Teilnehmenden abzielten. Es gab eine Konzentration auf Fragen im Bereich Sozialpolitik, Behindertenpolitik, Lokalpolitik und Verkehrspolitik. Das sind alles Bereiche, die die Personen unmittelbar betreffen. Das zeigt, dass es sich hier um eine Gruppe handelt, die ganz klar weiß, was sie betrifft und die für ihre Interessen über politische Urteilsfähigkeit verfügt.

TpB: Welche Rolle spielt die Zielgruppenorientierung im Rahmen einer inklusiven politischen Bildung?

CD: Zielgruppenorientierung ist ein Reizwort, denn Zielgruppenorientierung, wie sie in den 1970er und 1980er Jahren verstanden wurde, hatte diskriminierende und diskreditierende Auswirkungen. Deshalb ist heute wichtig genau zu schauen, was gemeint ist, wenn wir von Zielgruppenorientierung sprechen. Wenn ich überlege, was es alles für Barrieren und Schwierigkeiten in Angeboten der politischen Bildung gibt, dann muss ich eine Vorstellung und einen Begriff von Zielgruppen haben, um Zugänge zu schaffen, beispielsweise für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen oder Menschen mit Sehbehinderung. Insofern ist es nicht unbedingt ein Widerspruch, auch in einer inklusiven politischen Bildung von Zielgruppenorientierung zu sprechen. Diese muss allerdings, wie gesagt, neu gedacht werden. Die Identifikation von Barrieren und auch das Wissen um Bedarfe darf nicht dazu führen, dass daraus exkludierende Formate bei der Planung und Gestaltung von Bildungsveranstaltungen entstehen, indem man die Angebote nur für diese Gruppe anbietet. Meine Vorstellung ist eher die, dass zielgruppenorientierte Angebote eine Phase innerhalb eines inklusiven Angebotes sind.

TpB: Haben Sie hierfür ein Beispiel?

CD: Wenn Sie beispielsweise an die Volkshochschulen und andere Bildungsträger denken, dann könnte es für ein inklusiv ausgeschriebenes Bildungsangebot, an dem auch Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen teilnehmen, zum Beispiel ein eigenes Vorbereitungsangebot geben. In solchen Angeboten könnten diese Personen im Sinne des Empowerment-Ansatzes darin gestärkt werden, ihre Interessen zu vertreten und sich einzubringen. Es ist aber darauf zu achten, dass es sich nicht wieder in einen gesonderten, exkludierten Bereich verselbstständigt, in den dieser Personenkreis „abgeschoben“ wird.

TpB: Welche empirischen Forschungsergebnisse kennen Sie zu inklusiver politischer Bildung?

CD: Zum heutigen Zeitpunkt gibt es so gut wie keine Befunde zur inklusiven politischen Bildung. Was es aber schon seit einiger Zeit gibt, sind Publikationen, die einzelne Projekte in diesem Bereich beschreiben und diskutieren. Mittlerweile gibt es auch einige Promotionsprojekte dazu. Letztes Jahr ist z.B. eine Arbeit von Frau Klamp-Gretschel zur politischen Teilhabe von Frauen mit geistiger Behinderung erschienen. Einige andere Promotionsvorhaben, die ich kenne, sind noch in Arbeit. Und mittlerweile gibt es ja auch ein Zentrum inklusive politische Bildung. Dort will man auch Forschungsstrukturen zu schaffen.

TpB: Könnte man aus anderen Forschungsbereichen Befunde übertragen?

CD: Auf jeden Fall, das passiert auch. Es können zum Beispiel Studien aus dem anglo-amerikanischen Raum über Leichte Sprache und Wege der Vermittlung für den Kontext der politischen Bildung herangezogen werden. Die zeigen beispielsweise, wie man mit Bebilderung, Piktogrammen und Symbolen sprachliche Barrieren reduzieren kann.

Allerdings haben Poncelas und Murphy in einer Studie gezeigt, dass ein solcher Ansatz gerade im Bereich der politischen Bildung, bei politischen Begriffen und Sachverhalten wieder besonders schwierig ist. Wenn man sucht, findet man sicherlich etwas, aber das ist bisher eine Puzzlearbeit.
Wenn man so will, haben wir daher mit dem Band „Didaktik der inklusiven politischen Bildung“ den ersten Aufschlag gemacht.

 

veröffentlicht am 21. September 2017

 

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